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Der Shylockvertrag und sein Urbild.

Von

Rudolph Eberstadt.

I.

Die folgenden Darlegungen, die sich auf Shakespeares «Kauf

mann von Venedig» beziehen, wollen in keiner Weise die psychologischen Probleme und den sittlichen Gehalt des Stückes behandeln. Wie in dem gewaltigen Drama der hingebenden Freundschaft und des starren Rechtsanspruchs die Ethik verteilt ist, wie die Charaktere zu beurteilen sind, bleibt für uns außer Betracht. Wir wollen vielmehr lediglich die stoffliche Grundlage des Bühnenstücks untersuchen; wir wollen erörtern, wie der Gedanke eines bindenden Vertrages über ein Pfund Menschenfleisch entstanden ist, welchem Rechtskreis er angehört, und wie er endlich Gegenstand der Rechtsprechung und einer Gerichtsverhandlung werden konnte, deren Einzelheiten wir, trotz aller natürlichen Einwendungen, als folgerichtig, realistisch und glaubhaft anerkennen. Es sind im übrigen keine neuen Quellen, die unserer Darstellung zu Grunde liegen; die vorliegende Studie will nur als ein bescheidener Versuch gelten, die stoffliche Entstehung und Technik des Shakespeare'schen Werkes zu betrachten und hierfür einige neue Gesichtspunkte aufzustellen.

Die deutsche wie die englische Shakespeareforschung unterscheiden in dem «Kaufmann» zwei Stoffkreise, für die die Herkunft aus den Quellen nachzuweisen ist die Kästchenwahl und das Fleischpfandmotiv (casket story and bond story). Der Gedanke der Kästchenwahl hat ursprünglich mit dem Fleischpfandvertrag nichts zu tun; er ist vielmehr einer selbständigen, aber sehr einfachen Erzählung entnommen. Die Kästchenwahl wurde von Shakespeare oder

Jahrbuch XLIV.

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seinem Vorgänger in die Haupthandlung hinein verflochten und zwar aus ästhetischen Gründen, um nämlich ein älteres, unschönes Motiv zu ersetzen, von dem wir später noch hören werden. Das Kästchenmotiv ist einer genaueren Erläuterung nicht bedürftig und kann für die nächsten Darlegungen außer Betracht bleiben.

Anders das Fleischpfandmotiv, dem unsere Untersuchung eigentlich gelten soll und das wir durchaus nicht als einen einheitlichen Stoff betrachten dürfen. Wollen wir der Entstehung des Stückes nachgehen, so müssen wir vielmehr die Haupthandlung in eine ganze Anzahl von Stoffgebieten zerlegen und eine Reihe von Bestandteilen verschiedenen Ursprungs unterscheiden, die erst allmählich zu einem einheitlichen. Ganzen zusammengefaßt wurden. Der Stoff unseres Dramas scheidet sich bei Shakespeare und seinen älteren Quellen in drei Hauptteile: I. der Fleischpfandvertrag, II. das Liebesmotiv, III. die Urteilsmotive. Ein Vertrag wird geschlossen, bei dem gegen ein Darlehen das Fleisch des Schuldners verpfändet wird (I); das Darlehen wird aufgenommen, um dem Schuldner oder seinem Freunde die Annäherung an die Geliebte zu ermöglichen, und die Geliebte wird selber dann zur Retterin (II); der Schuldschein verfällt und das Urteil muß durch Auslegung des Vertrages ohne Rechtsbeugung gefunden werden (III). Doch diese Motive zeigen wiederum in den Quellen eine verschiedenartige Ausgestaltung. Der Fleischpfandvertrag kann lauten auf ein genau genanntes Gewicht sohne mehr oder weniger»; oder auf ein unbestimmtes Gewicht. Auch das Liebesmotiv zeigt Abweichungen. Die Urteilsmotive endlich haben sogar eine Dreiteilung aufzuweisen. Die Befriedigung des Gläubigers wird vereitelt: a) durch Anwendung der von dem Gläubiger selbst geforderten Wörtlichkeit der Vertragsauslegung, die ein haarscharfes Einhalten des stipulierten Gewichtes fordert; b) durch den Hinweis, daß der Vertrag nur Fleisch aber kein Blut gewährt; c) durch die Erkenntnis der Unsittlichkeit des Vertrages selber, der die Zerstückelung eines Menschen zum Gegenstand hat. Für Aufbau, Verkettung und Lösung der Handlung ergibt sich danach das folgende Schema:

I. Fleischpfandvertrag

II. Liebesmotive

III. Urteilsmotive

a) genau bestimmtes Gewicht.
b) unbestimmtes Gewicht.

a) genaues Gewicht,

b) Fleisch, aber kein Blut,
c) Unsittlichkeit des Vertrages.

II.

Versuchen wir nun, die hauptsächlichsten Vorgänge der Handlung nach der Gestaltung Shakespeares darzustellen, indem wir die stofflich-technischen Einzelheiten besonders scharf herausheben. Ein reicher aber wagemutiger Kaufmann in Venedig, ein echter Merchantadventurer, kann seinem bedürftigen Freund nicht mit dem für seine Pläne erforderlichen baren Gelde aushelfen. Er nimmt deshalb ein Darlehen auf unter der Verpflichtung, daß bei nicht pünktlicher Zahlung am Verfalltage der Gläubiger das Recht hat, ein Pfund Fleisch aus dem Körper des Schuldners zu schneiden. Der Vertrag enthält, wie hier schon hervorgehoben sei, kein alternatives Wahlrecht, etwa in dem Sinne, daß der Gläubiger wählen könne zwischen Kapital und Fleischpfand. Sondern in dem Augenblick, in dem der Rückzahlungstermin verstrichen ist, scheidet die Kapitalforderung rechtlich endgültig und vollständig aus, und an ihre Stelle tritt das Recht auf ein Pfund Fleisch. Der Schuldner wird zahlungsunfähig. Der Gläubiger besteht auf seinem Schein und verlangt von dem venezianischen Stadtgericht Vollziehung. Die Rechtsprechung ist die der freien italienischen Städte des Mittelalters.) Die Richter sind die Regenten des Stadtstaates, denen die Gerichtsgewalt zusteht; Stadtrichter ist der Doge, Beisitzer sind die «Magnificos», die Herren des Rats von Venedig. Das Gericht vertritt den Grundsatz, daß im Staatsinteresse keine Beugung des Rechts zulässig ist und daß Verträge streng gehalten werden müssen. Dem Gläubiger ist deshalb die Vollziehung nach dem Wortlaut des Vertrages zu gestatten. Nach Stadtrecht bietet sich kein Ausweg.

Den

Indes bleibt dem Gerichtshof noch ein letztes Mittel. Gerichtshöfen jener Zeit steht das Recht zu, einen Berufsjuristen systematischer d. h. römisch-rechtlicher Bildung zuzuziehen. Sein Name im Verfahren der Zeit ist amicus curiae2); ihm fällt die Aufgabe zu, schwierige Rechtsfragen nach der höchsten Autorität

1) Jedoch bühnenmäßig vereinfacht und deshalb, wie kaum bemerkt zu werden braucht, nicht vollständig der Venetianischen Gerichtsordnung entsprechend. Vgl. über letztere: Enrico Besta, Gli statuti civili di Venezia, Nuovo Arch. Ven. N. S. I, S. 76; Kretschmayr, Geschichte von Venedig, Leipzig 1905.

2) Ich verdanke diese Angabe dem Pandektisten Professor Schneider, vormals in Zürich. Über die Heranziehung von Rechtsgelehrten bei Gerichtsentscheidungen vgl. auch Bartolus a Saxoferrato, Tractatus Do. Alberti de Ramponibus de Consiliis habendis per officiales et assessores, cum additionibus, Werke Bd. V, S. 503 ff.

des an den italienischen Universitäten gelehrten Römischen Rechts zu entscheiden. Von diesem Mittel macht der Doge Gebrauch, und in meisterhaft natürlicher Weise wird der Romanist (römisch-rechtlich geschulter Gelehrter) in die Verhandlung des Stadtgerichts eingeführt. Der Doge hat einen rechtsgelehrten Doktor, den berühmten Bellario aus Padua berufen und ihm zuvor alle Einzelheiten des Rechtsfalles mitgeteilt.) In Vertretung des Bellario erscheint eine nahe Anverwandte, Porzia, unter dem Namen Balthasar, nachdem sie die genaue Meinung des Bellario eingeholt hat und von ihm. instruiert worden ist. Der Vorgang ist hier vollständig richtig dargestellt gemäß dem mittelalterlichen Verfahren, wie es sich nach dem Eindringen des Römischen Rechts gestaltet hatte. Nur ein Vertreter der in Italien wiederauferstandenen und des höchsten Ansehens genießenden römischen Rechtswissenschaft konnte in die Verhandlung berufen werden, und der Lehrer des benachbarten Padua, nächst Bologna eine der ältesten Universitäten, kam in erster Reihe in Betracht.

Porzia prüft den Vertrag und erklärt, daß er in der Tat genau nach dem Wortlaut vollzogen werden müsse. Sie ruft die Milde des Shylock an und bietet ihm ein mehrfaches des ursprünglichen Kapitals. Nachdem Shylock jede Geldzahlung abgelehnt hat, spricht Porzia ihm die Vollziehung zu nach dem genauen Wortlaut. Als aber Shylock sich anschickt, das verfallene Pfand zu schneiden, macht ihn Porzia auf die wörtliche Fassung aufmerksam: der Vertrag gewährt Fleisch, aber keinen Tropfen Bluts 2); und er gestattet ferner nur ein Pfund Fleisch, aber nicht mehr oder weniger. Shylock tritt nunmehr vom Vertrag zurück und erklärt sich bereit, die angebotenen Kapitalbeträge anzunehmen. Dem aber steht, wie Porzia nunmehr einwendet, seine zuvor an Gerichtsstätte ausgesprochene Ablehnung entgegen; auch hier muß der Wortlaut gelten. Die Kapitalzahlung steht nicht mehr in Frage. - Anscheinend ist der Rechtsstreit hier erledigt; jetzt aber gibt ihm Porzia plötzlich eine neue Wendung und allegiert noch Venezianisches Stadtrecht. Nach venezianischem Gesetz hat ein Fremdling - und als solcher gilt der Jude, der einem Bürger

1) Duke: I may dismiss this court, unless Bellario, a learned doctor, whom I have sent for to determine this, come here to-day (IV 1, 104 ff.). Brief des Bellario: «In the instant that your messenger came, in loving visitation was with me a young doctor of Rome: his name is Balthasar. I acquainted him with the cause in controversy between the jew and Antonio the merchant: we turned o'er many books together: he is furnished with my opinion» (IV 1, 154 ff.).

2) This bond doth give thee here no jot of blood;

The words expressly are «a pound of flesh».

nach dem Leben trachtet, Leib und Gut verwirkt. Dieser Fall liegt hier vor. Das Gesetz wird sofort angewendet; durch den Spruch des Dogen fällt die eine Hälfte von Shylocks Vermögen an Antonio, die zweite Hälfte bleibt dem Shylock für Lebenszeit, mit einem Erbrecht zugunsten seiner entlaufenen Tochter; er selbst wird der Zwangstaufe unterworfen.

Schon hier grenzen sich deutlich die hauptsächlichen Probleme ab, die wir in der Behandlung des Stoffes und der Technik zu besprechen haben. Ehe wir aber an die einzelnen Gegenstände unserer Untersuchung herantreten, bleibt uns doch eine Frage vorweg zu erörtern. Wir haben zunächst zu fragen, ob eine einheitliche Durchführung der Handlung vorliegt. Der Aufbau ist ohne Zweifel richtig; ist aber auch die Lösung, die drei getrennte Motive zeigt, richtig und aus demselben Geiste heraus gefunden? Porzia ist berufen und instruiert als Romanist; sie kann nur aus Römischem Recht argumentieren. Hiermit steht und fällt die Begründung des Auftretens der Porzia vor Gericht. Aber schon ihr erstes Urteilsmotiv, die Trennung von «Fleisch» und Blut, ist ganz unrömisch. Das Blut ist nach römisch-rechtlichen Begriffen (deren entsprechende Anwendbarkeit wir im Sinne der Dichtung unbedingt bejahen müssen) ein Bestandteil des Fleisches; beide gelten als eine einheitliche Sache. Das Römische Recht hat es sich ganz besonders angelegen sein lassen, das hier vorliegende Verhältnis klarzustellen. Das Fleisch gilt als «Hauptsache»; das Blut ist nur Sachbestandteil, der kein selbständiger Rechtsgegenstand sein kann, sondern das Schicksal der Hauptsache teilt. <<Wenn mir die Hauptsache gehört, so zieht sie ihre Bestandteile von selber mit sich », lautet einer der hierher gehörenden Grundsätze des Corpus juris.1) Was aber für unseren Fall das wesentliche ist wir können sogar nachweisen, wie gerade die mittelalterlichen Rechtsgelehrten das hier erörterte Verhältnis beurteilt haben. Der hochangesehene Rechtslehrer Bartolus, den wir als den Zeitgenossen unseres großen Bellario aus Padua zu betrachten haben, hat den vorerwähnten Satz des Corpus juris mit einer Glosse versehen; er entscheidet hierbei kurz und bündig und mit einer Wendung, die geradezu auf unseren Fall gemünzt scheint: «Der Bestandteil hat der Hauptsache zu folgen; und das Flüssige gehört zu dem

1) Vgl. Regelsberger, Pandekten I, S. 367 und den von ihm zitierten Satz: Mea res per praevalentiam alienam rem trahit meamque efficit. L. 23 § 4 D. de R. V. VI, 1.

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