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Jahrhunderte lang, seitdem uns das Gefühl und der Name eine Nation abhanden gekommen war, unter den erhabenen Denkmälern altdeutscher Baukunst mit einer ähnlichen Gedankenlosigkeit, wie di Fellahs unter den Pyramiden einbergegangen, bis endlich jener Geist, in welchem sich ein Göß von Berlichingen und ein Fauft zusammenbaute, auf jene riesenhaften Münster wie auf den „Hintergrund" seiner Dichtungen zurückschaute und mit entzückter Ahnung ausrief:,,Dies ist unser!" und dann freilich Aeltere und Jüngere, des wiedergewonnenen Besizes froh, durch wiederholte Beschauung, Messung und Nachzeichnung sich und mehr und mehr der ganzen Nation den Geist der großen Erbauer lebendig und gegenwärtig zu machen wußten. Die Denkmäler unserer Nationalliteratur waren Jahrhunderte lang nicht bloß der Kenntniß des Volkes, sondern felbft der der Gelehrten entzogen, sie schmachteten im Staube der Vergeffenheit, wie zur Zeit des Königs Josia die heiligen Bücher der Juden. Besonders auf das Nibelungenlied und andere Volkscpen findet dies feine Anwendung, welche, kaum aus der rapsodischen Gestalt zu zusammenhängenden Epopöen erhoben, alsbald der romantischen Ritterpoesie eines Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg erlagen und nur in rohen Volksbüchern, wie „der hörnerne Siegfried“ 2c., mit großer Hartnäckigkeit ein entstelltes und fast erstarrtes Dasein bis in die neuere Zeit behaupteten. Schon ein Luther und Hutten wußten nichts mehr von den Nibelungen und anderen werthvollen Dichtungen des Mittelalters. Beide Männer dichteten denn auch in der deutschen Sprache mit einer Stümperhaftigkeit in der Form, als wäre vor ihnen noch kein deutsches Wort geschrieben oder gedruckt worden. Mit der Reformation und dem Beginne einer Gelehrtenpoesie erlosch die Erinnerung an die großen Werke der mittelalterlichen Sagen- und Kunstdichtung fast ganz und z. B. die einzeln stehende Bemühung des noch stark volksthümlichen Meistersängers Hans Sachs, den,,hörnernen Siegfried“ zu dramatisiren, bleibt ohne alle Einwirkung auf die poetische Richtung der folgenden Zeiten. Im dreißigjährigen Kriege kam endlich auch auf jedem anderen Gebiete jener ungeheure Bruch mit der Vergangenheit zur Vollendung, der uns im Gefühl eines entleerten Volksbewußtseins eine lange Zeit hindurch in der Politik zu ehrlosen Knechten, in der Literatur zu gedankenlosen Nachbetern des Auslandes machte.

Es ist bedeutsam, daß mit dem entschiedenen Auftritte eines besse

ren Geschmackes das Bedürfniß der Bekanntschaft mit der älteren deutschen Literatur sich alsbald wieder zu regen und zu wachsen begann, ohne aber mit der Entwickelung der neuen classischen Periode ganz gleichen Schritt zu halten. Die dunkle Sehnsucht lag dabei unverkennbar im Hintergrunde, den geistigen Ertrag der älteren Periode in die neue mit hinüber zu nehmen. Es gelang freilich nicht und konnte nicht gelingen; aber die Herübernahme, wo sie stattfand, ist von unberechenbarem Erfolge gewesen. Bedeutende Lücken blieben überall da fühlbar, wo die neuere Literatur ohne Anlehnung an ältere Vorbildungen aufzutreten und mit leeren Händen fremden Musteru nachzugehen gezwungen wurde.

Opis (geb. 1597, geft. 1639), der Bahnbrecher der neuen classischen Periode, entdeckte zuerst wieder den Lobgesang auf den heiligen Hanno von Cöln, aus der lezten Hälfte des 11. Jahrhunderts, und gab ihn heraus; Gleim stellte später die Frage auf: ob das Studium der alten deutschen Literatur, insonderheit des Lobgesanges auf den heiligen Hanno dem großen Opiß Geist und Sprache gegeben? - Diese Frage muß freilich verneint werden, aber die Thatsache bleibt bedeutungsvoll als Bezeichnung eines empfundenen Bedürfnisses. Wie viel es einem Flemming, einem Simon von Dach und Anderen nach Opiß genügt haben mag, auf den einfachen Ton des deutschen Volksliedes zu lauschen, das kann man in einer Zeit steigender Verkünftelung der Poesie vielleicht nicht hoch genug anschlagen, aber es läßt sich nicht genau mehr nachrechnen. Etwas über hundert Jahre nach Opiß, a. 1758, gab Bodmer, dem das bewußte Streben für Erweckung einer nationalen Poesie immer ein Andenken in der deutschen Literaturgeschichte sichern wird, zum ersten Male die Minne sånger und bald darauf auch Chriemhilde's Rache und die Klage heraus. Gleim versuchte sich nicht ohne Geschick in Uebertragungen und Nachbildungen der Minnelieder. Seine naive Frage: ob wir in jenen Zeiten unsern Homer wohl nicht schon auch gehabt hätten? beweist, daß er ebensowenig, wie alle anderen Zeitgenossen für die Erkenntniß des Nibelungenliedes ein Organ hatte. Lessing, der sonst auch auf diesem Gebiete ein Bahnbrecher gewesen ist und getroffen von der Einfalt und Wahrheit in einer echten und lautern Sprache“ die Fabeln aus den Zeiten der Minnesänger, tie altdeutschen Sprichwörter, das Heldenbuch und andere Sprachbenkmale der verschollenen ältern deutschen Literatur mit lebendigem.

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Interesse erfaßte, scheint für die epische Literatur überhaupt keinen rechten Sinn gehabt zu haben. Er kennt Chriemhilde's Rache nur dem Namen nach, Reinecke den Fuchs nur als ein Werk,,niederer Gattung". So gewiß ist es, daß auch der geistvolle Kopf bei allem Vorstreben immer in der Beschränktheit seiner Zeitbildung haften bleibt. Auch Klopstock, obwohl vaterländischer Begeisterung voll, fand den Weg bis zum Nibelungenliede nicht. Er meinte schon: „Von den Minnesängern bis zu Luther ist ein weiter Weg. Ich hatte nie der Muße genug, um zu sehen, ob dort auch an den Rosen Dornen wären." Schwerlich hätte er auch aus der ungestaltlichen hochgetriebenen Empfindungspoesie, welche sein Wesen ausmacht, sich herausbegeben und in jene Welt urkräftiger Thaten und eiserner Charaktere versenken können, ohne vernichtet zu werden oder wie aus seinem Studium des Homer - mit einer frostigen Bewunderung davon zu gehen und sich in eine falsche Nachahmung treiben zu lassen. Schon der Weg bis zu Luther, wie seine geistlichen Nachdichtungen bezeugen, war dieser der wirklichen Welt fast entrückten Persönlichkeit verlegt. Wieland's zwischen einer unwirklichen Ideenwelt und einer ideenlosen, gemeinen Wirklichkeit mit Selbstbehagen hin und wiederspielende Natur hätte den von Bodmer herausgegebenen und in Herameter überseßten Parzival des gestaltenreichen und gedankenschweren Wolframs von Eschenbach schwerlich zu fassen vermocht, obwohl er dichtend in der romantischen Ritterwelt einheimisch war. Was er etwa von dem Nibelungenliede gedacht hat, ist wohl noch nie gefragt worden. Herder, in der ältern deutschen Literatur schon viel bewandert und so davon erbaut, daß er bekannte, ,,er halte sich am liebsten zu beinahe vergessenen deutschen Dichtern“, zugleich begabt mit einem geistvollen Groß- und Vielblick für die Gesittung aller Völker und Zeiten und zuerst im Besiße der entschiedenen Erkenntniß, daß alle wahrhafte Poesie national,,,eine Blume der Eigenheit jedes Volkes" sei und nach einem eignen Maßstabe gemessen werden müsse, wäre mehr als ein Anderer dazu geeignet ge wesen, auch hier ein anregender Lichtbringer zu sein. Hatte er doch überdies für das Epos ein viel größeres Interesse als Lessing, wie er denn ein solches durch die Bearbeitung des Cid, durch kris tische Erörterungen über Homer, Ossian, Klopstock und Reinecke den Fuchs deutlich an den Tag gelegt hat; hatte er doch, hiemit nahe zusammenhängend, eine seltene Liebe zu dem Volksge

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jange, wie er sich ausdrückt,,,dem gebrochenen, noch unansgeprägten Metalle, wie es aus dem Schooße der großen Mutter kommt.”’ Aber selbst die a. 1784 endlich erfolgte vollständige Ausgabe des Nibelungenliedes durch Müller brachte ihn nicht zur Erkenntniß eines Schazes, deffen Mangel er unwissend so oft beseufzt. Er äußerte: ,,über die langen epischen Gedichte dieses Zeitalters (des Minnegefanges) will ich gar Nichts schreiben. Die wenigsten habe ich gelefen; es hat mir Luft zu ihnen und Muße gefehlt," indem er zugleich die allgemeine Lauheit den von Bodmer gehobenen Schäßen gegenüber und die mangelhaften Hülfsmittel des Verständnisses beklagt. Was er durch die Herausgabe seiner Volkslieder, dieser,,armen Feldund Waldblumen", wie er fie nennt, nicht bloß für einen freieren Standpunkt der durch Griechenthum und Römerthum eingeengten Kunstbetrachtung, sondern in's Besondere für die nationale Verjüngung der deutschen Poesie, zunächst der Lyrik, geleistet hat, das ist gar nicht auszusprechen. Noch jest, nach fast hundert Jahren, bewässert diese geöffnete Felsenquelle lebensfrischer Poesie eine Literaturepoche, tie dem Absterben nahe ist. Das Nibelungenlied also konnte durchaus keinen einsichtigen und einflußreichen Liebhaber gewinnen. Friedrich der Große, dem Müller den ersten Abdruck desselben überreichte, erklärte, daß solche Gedichte des zwölften, dreizehnten und vierzehnten seculi nicht einen Schuß Pulver werth wären und nicht verdienten,,,aus dem Staub der Vergessenheit gezogen zu werden.“ Es gehörte wohl der große historische Blick eines Johannes von Rüller dazu, um endlich gegen das Ende des Jahrhunderts den bedenklichen Ausspruch zu wagen,,, daß das Nibelungenlied die deutsche Ilias werden könnte." Der durch die Freiheitskriege wiedererweckte nationale Sinn, der auch auf anderen Gebieten dem deutschen Volke die vergessene Erbschaft einer großen Vergangenheit wieder im rechten Lichte zeigte, kam alsbald auch dem Nibelungenliede zu Gute. Besonders war es die sogenannte romantische Schule, welche durch dichterische Verarbeitung und einsichtige Anempfehlung die ältere deutsche Literatur zu neuem Umsatz in das Leben zu bringen suchte. Bieles wirkte Tied's Einsprache für die mittelalterlichen Minnedichter a. 1803, sowie für das Nibelungenlied A. W. v. Schlegel's anregende Vorträge zu Berlin und dessen Aufsäße in dem deutschen Museum 1811; von wo an denn durch eine Reihe verdienstvoller bekannter Männer in jedem Jahrzehend die Bekanntschaft, das In

tereffe und die Einsicht in diesem Gebiete immer mehr zugenommen hat. Und Goethe und Schiller, höre ich fragen, welche Anerkennung, welche Bemühung widmeten sie demselben? Die Antwort darauf ist schmerzlich. Goethe, als er noch schwankend nach Mustern umherschaute, dachte für die Lyrik wohl an die Minnelieder; aber die Mühe, sich erst in eine ihm fremde Sprache hineinzustudiren, hielt ihn eingeständlich fern davon; er wollte „nicht lernen, sondern leben und dichten." Aus dem Anblick einer dürftigen Biographie schuf er seinen Göz von Berlichingen, ein hölzernes Volksbuch gab ihm die Anschauung seines Faust. Aus dem Meistersänger Hans Sachs lernte er in Knittelversen anmuthig erzählen und ergößlich belehren; das deutsche Volkslied gab ihm Grundform und Stoff zu einer Lyrik ohne Gleichen in Gegenwart und Vergangenheit, vielleicht für alle deutsche Zukunft. Das Nibelungenlied lernte er erst spät kennen, vielleicht erst so recht durch Simrock's Ueberseßung. Es ist dem ergrauten Dichter schwer geworden, seinen Geist in diese ihm allzu fremd gewordene Welt noch zu schicken. Und doch ließ ihn auch diese große Erscheinung nicht ruhen. Er trug sich mit dem Gedanken an Bearbeitung einzelner Theile, z. B. der Unterredung Hagens mit den Meerweibern; er dachte endlich groß und denkwürdig von dem ,,unsterblichen“ Gedichte. Aber es gelang uns durch ihn leider nicht, den abgerissenen Faden unserer großen epischen Nationaldichtung wieder anzuknüpfen und jene unvergeßlichen Urbilder deutschen Volkslebens für das Gesammtbewußtsein wieder aufzufrischen. Und doch fam er als Epifer im modernsten Stoffe, in seinem Hermann und Dorothea der ursprünglichen Einfalt und Innigkeit deutscher Natur, wie sie im Nibelungenliede unter allen bekannten Dichtungen am reinsten zur Darstellung gekommen ist, in Form und Ausdruck so nahe, daß man den Wiedererwecker des Properz und Tibull gewiß auch für dieses Unternehmen mehr als irgend einen Andern befähigt halten mußte. Schiller's Aufmerksamkeit scheint auf diese Dinge niemals gewandt zu sein. Es war derselbe Geist in ihm, der ihn über die von Tieck herausgegebenen Minnelieder ein vornehmes Lächeln zeigen und über Bürger's Gedichte eine auffallend tadelsüchtige Anerkennung sprechen ließ; und doch hätte dieser große, durchaus moderne Gedanken- und Gefühlsdichter hier an Einfalt, Innigkeit und Naturwahrheit gar sehr gewinnen können.

Eine ganz wunderliche Stellung zu dem Nibelungenliede nimmt

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