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heit des unmittelbar Gegebenen zugekehrt sei. Diese Wahrbeit des natürlichen Daseins aber ist es, die der Künstler in seinen Werken zur Darstellung bringt; der Unterschied zwischen der Kunst und dem Leben, das sie reproduzirt, beruht in legter Instanz auf der Differenz des Wahren und Wirklichen. Wir wissen recht wohl, daß diese Differenz im Grunde eine Täuschung ist. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß sie besteht und ebensowenig bestreiten, daß der Sinn für das Wahre von dem für das Wirkliche verschieden und nur sehr selten mit ihm in ein und derselben Person verbunden ist.

Wo es gilt, das was ist, in seiner eigenthümlichen Bestimmtheit zu erkennen und zu figiren, entwickelt Gervinus eine Klarheit und Schärfe der Auffassung, die schwerlich von irgend Jemandem überboten werden wird. Wo es aber darauf ankommt, die jenseits der finnlichen und verständigen Wirklichkeit liegenden wesentlichen Ideen und allgemeinen Formen derselben zu bestimmen, läßt uns seine Darstellung durchgehends im Stich, weil ihm dieses Gebiet so gut wie ganz verschlossen ist. Man lese z. B. eine der Schilderungen, in welchen er die Hauptcharaktere der vers schiedenen Dramen zu zeichnen sucht, und man wird gestehen müssen, daß sie, was die lebendige und anschauliche Vergegenwärtigung der einzelnen Charakterzüge ans geht, kaum etwas zu wünschen übrig lassen. Fragen wir aber nach dem inneren Bande, das die mannigfachen Aeußerungen der dargestellten Persönlichkeiten zur Einheit des Wesens verknüpft, nach der substantiellen Grundlage der Gharaktere, nach der einbeitlichen Idee, welche sie als die belebende Seele durchdringt und ers füllt, so erhalten wir keine oder doch nur eine ungenügende Antwort.

Es ist daher sehr erwünscht, daß Herr S. gråde diesem Punkte seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt hat. Ihm liegt weniger daran, die Beschaffenheit der Gharaktere zu ermitteln, als es ihm darum zu thun ist, ihre Bedeutung zu erforschen. Sein Blick ist nicht nach Oven, auf die Zweige und Ausläufer des Stammes, sondern auf die in der Tiefe liegenden Wurzeln desselben gerichtet. Gr fagt uns nicht blos, wie die Charaktere geartet, sondern vor Allem, wie sie geworden sind, und begnügt sich nicht damit, ihre besonderen Manifestationen, wie fie eben hervortreten, einfach anzugeben, sondern ist zugleich eifrigst bestrebt, ́sic aus ihrer einbeitlichen Quelle, aus der allgemeinen, grundwesentlichen Bestimmtheit der sich in ihnen bethätigenden Personen abzuleiten. Seine Darstellung ist dem Haupts inhalte nach analytische Begründung, nicht synthetische Beschreibung; sie be schäftigt sich weniger mit dem Was als mit dem Warum, und ruht nicht cher, bis sie die lehten und allgemeinsten Gründe an's Licht gezogen hat.

Es ist, wie bekannt, eine Eigenthümlichkeit des Shakespeare'schen Dramas, durch welche es sich namentlich von den szenischen Kunstwerken der Alten unters scheidet, daß die Charaktere in ihm entschieden die Hauptsache sind, während die Handlung als solche nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Wir glauben nicht, daß man im Rechte ist, wenn man, wie das heut zu Tage ziemlich allgemein ge schicht, in dieser Abweichung nur einen Vorzug erblicken will. Wohl aber kann sie dem Erklärer Shakespeare's zur Rechtfertigung dienen, wenn er nicht die äußere Handlung und deren Verlauf, sondern die bandelnden Personen und deren innere Entwickelung als den eigentlichen Gegenstand seiner Darstellung betrachtet. Auch Herr S. hat die starke Seite der Shakespeare'schen Kunst, die Charakteristik mit entschiedener Vorliebe behandelt, woraus man indeß nicht folgern darf, daß Anordnung und Com position der Fabel, auf welche unseres Grachtens das interdum dormitat Homerus volle Anwendung findet, seiner Beachtung entgangen wäre. — Wir sagten schon, die Analyse der Charaktere, der wir bei unserem Verf. begegnen, dringe zu dem tiefiten und innersten Kerne derselben vor. Hier fügen wir hinzu, daß sie im Allgemeinen ebenso umfassend wie tief, und nicht weniger auf die peripherische Entwickelung wie auf den centralen Einheitspunkt gerichtet ist. Das Werden und Wachsen des Gbas rafters, die Umwandlungen, die er erfährt, der vsychologische Prozeß, den er durch läuft, finden in Herrn S. einen höchst aufmerksamen, nichts übersebenden, Alles, auch den geringsten Zug, den leisesten Schritt scharf_in's Auge fassenden Beobachter.

Die Skizzirung dramatischer Charaktere hat in neuester Zeit mit der sehr richtigen Ansicht, daß jede Persönlichkeit als der fleischgewordene Ausdruck einer

bestimmten Grundidee anzusehen sei, argen Mißbrauch getrieben. Man machte sich die überaus schwierige Aufgabe, diese Grundform der Charaktere zu ermitteln und feitzustellen, außerordentlich leicht, indem man die produktive Seele des gesammten Lebensinbaltes mit irgend einem einzelnen hervorstechenden Momente desselben iden tinzirte. Es gibt nicht wenige böchst geistreiche und sehr bewunderte Gharakteristiken dieser Art, die in der That nichts weiter sind, als eine praktische Anwendung der bekannten Redesigur, die man pars pro toto zu nennen pflegt. Herr S. ist sehr weit daven entfernt, sich eine solche Gscamotage, die uns an Stelle des ganzen, lebendigen Menschen ein einzelnes abgerissenes und darum lebloses Glied desselben in die Hände spielen möchte, zu Schulden kommen zu lassen. Er hat die harte Arbeit, den ausdauernden Fleiß nicht gescheut, ohne welchen es unmöglich ist, ein inhaltreiches persönliches Leben in der Gesammtheit seiner Aeußerungen zu ergreifen und zu verstehen. Er hat sich überdem mit einer seltenen Hingebung in das fremde Leben, dessen Berständniß erschlossen werden sollte, vertieft, und ist eben dadurch in den Stand gesetzt worden, dessen Natur und Bildungsgang genau und allseitig zu erkennen.

Die volle, unbefangene Hingebung an den Gegenstand, das ist immer und überall das sicherste Mittel, seiner vollständig Herr zu werden. Denn sie allein macht es möglich, den Standpunkt der Betrachtung da zu nehmen, von wo er nothwendig im reinsten und hellsten Lichte erscheinen muß, in ihm selber. Es ist ein entschiedener Vorzug der Sievers'schen Darstellung, daß Grund und Zweck derselben ausschließlich in ihrem Objekte liegt, daß sie einzig und allein von dem Interesse an der in ihr behandelten Sache geleitet und beherrscht wird. Die Person des Dichters, welche Gervinus überall in der Vordergrund stellt, tritt bei Herrn S. durchaus zurück; während jener nicht müde wird, die Größe des Dichters und Menschen vreisend hervorzuheben, läßt dieser den Ruhm des Meisters lediglich durch seine Berke verkündigen. Für Gervinus sind die Dichtungen Shakespeare's nur der Beg, welcher seinen Blick zu ihrem Urheber hinüberleitet; für Herrn S. dagegen das lehte Ziel, an welchem sein Auge unverwandt haftet; sie haben für den erteren die Bedeutung eines Mittels, dem legteren sind sie Selbstzweck.

Bon Shakespeare ist in den vorliegenden Abhandlungen nur sehr selten, und auch dann meist kurz und im Allgemeinen die Rede. Es geschicht nicht eben oft, daß irgend eine bemerkenswerthe Gigenthümlichkeit seiner Auffassung oder ein charakteristisches Merkmal seiner Kunstweise ausdrücklich hervorgehoben und eingehend erörtert wird. Der Verf. hat die Frage nach der Genesis der Dramen bei seiner Bearbeitung zur Seite liegen lassen; er kümmert sich weder um ihren geistigen Urserung, der in der Seele des Dichters zu suchen ist, noch um ihre materielle Quelle, die in den historischen Vorausschungen verborgen liegt; er nimmt sie, wie sie eben find, als die fertigen, vollendeten und auf sich selber ruhenden Produktionen des künstlerischen Genius, dessen schöpferische Hand sie gebildet hat. Wenn Gervinus sich überall nach dem Grunde dieser Bildungen erkundigt, nach dem Zwecke, welchem sie dienen, nach der Meinung, die sie vertreten sollen, so forscht Herr S. nur nach dem, was sie an sich selbst bedeuten. Es ist ihm gleichgültig, wie sie sich zu dem persönlichen Denken und Streben des Dichters verhalten, ob derselbe eine Ansicht oder eine Maxime, eine Mahnung oder einen Trost, eine Warnung oder eine ermunternde Lebre bat aussprechen wollen. Oder vielmehr, er ist überzeugt, daß die Frage nach der Stimmung und Absicht des Künstlers bei der Würdigung eines Kunstwerks, wenn auch nicht unstatthaft, so doch eine Frage von untergeordneter Bedeutung ist.

Jede wahrhaft künstlerische Schöpfung wird in demselben Augenblicke, in wel dem sie an's Licht tritt, majorenn; ihre Selbständigkeit datirt von dem Mo ment ihrer Geburt; sie ist gleich im Beginne ihres Daseins sui juris und keiner väterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt unterworfen. Vermöge dieser unbedingten Autonomie bildet sie eine Gristenz für sich, die, weil sie lediglich auf ihrer eigenen Kraft basirt, auch nur aus ihr selbst begriffen und erklärt werden kann. Wie Ales, was dem Bereiche des Lebens angehört, hat auch das Kunstwerk seinen Ursprung und seine Bestimmung in sich. Es bedeutet nicht mehr, aber auch nicht

weniger, als es ist; der Umfang seines wirklichen Inhaltes ist zugleich das Maß feines Werthes. Herr S. hat sich, um den inneren Gehalt und den wahren Sinn der Shakespeare'schen Dramen zu ermitteln, ausschließlich an sie selber um Auss kunft gewandt, und damit unseres Erachtens den einzigen Weg eingeschlagen, auf welchem eine richtige und vollständige Lösung der gestellten Aufgabe zu erreichen ist. Der beste Interpret eines Kunstwerks ist ohne Zweifel es selbst; es kommt aber nur darauf an, ihm die Zunge zu lösen, damit es die Geheimnisse seines Wesens offenbare. Freilich ist diese Operation mit nicht geringen Schwierigkeiten verknüpft; es wird nicht Jedem gelingen, sie so befriedigend auszuführen, wie dies vom Verf. der in Rede stehenden Abhandlungen gerühmt werden darf.

Wir haben bis dahin den allgemeinen Charakter der vorliegenden Darstellung wenigstens in dem einen oder anderen ihrer Hauptzüge zu zeichnen versucht; es dürfte nun an der Zeit sein, ein Wort über ihre speziellen Resultate zu sagen. Auch können wir versichern, daß uns die Neigung dazu keineswegs fehlt; wir würz den dem Verf. sehr gern in das Detail seiner Ausführungen folgen, wiewohl wir uns in dem Falle befinden, dem Inhalte derselben fast durchweg ohne allen Borbehalt zustimmen zu müssen. Es gibt, auch wenn die Auffassung im Allgemeinen getheilt und das Ergebniß im Ganzen gebilligt wird, der Stellen gar manche, wo man einen Zweifel zu äußern, einen Einwand zu erheben oder auch eine Ergänzung zu fordern hat. Indeß, der uns zugemessene Raum gestattet nicht, eine kritische Prüfung des Einzelnen zu unternehmen. Ein kurzer Hinweis auf einige der neuen und eigenthümlichen Ansichten, die Herr S. in seinen beiden Auffäßen entwickelt und begründet, ist Alles, was wir uns erlauben dürfen.

Kein Shakespeare'scher Gharakter ist in neuerer Zeit so oft und aus so mannigfachen Gesichtspunkten besprochen worden, wie der Hamlets. Dennoch wird_Niemand behaupten wollen, daß diese geheimnißvolle Erscheinung nach allen Seiten genügend aufgeklärt sei. Der Grund, aus welchem es so schwierig ist, das sie ums gebende Dunkel vollständig aufzuhellen, liegt nach unserem Dafürhalten in dem Umstande, daß der Charakter Hamlets ein mehr weibliches als männliches Gepräge hat, oder, was die Sache noch genauer bezeichnen dürfte, daß Hamlet nicht sowohl ein Charakter als eine Natur ist. Der Charakter hat feste, bestimmte Grundzüge, die sich unschwer erkennen und fixiren lassen; zugleich ist seine Entwickelung, weil sie durch diese leicht faßbaren Elemente durchgängig bedingt wird, so klar und durchsichtig, daß sie in vielen Fällen fast a priori construirt werden kann. Die Natur dagegen bewegt sich auf einer Basis, die um so weiter zurückweicht, je tiefer man in sie eindringt, und zeigt in der Regel eine Reihe von Entfaltungen, deren Folge und Zusammenhang nicht das zweifellose Gesetz, sondern die unberechenbare Laune zu bestimmen scheint. Der Charakter erschließt sich daher nicht selten dem ersten scharfen Blicke, von dem er getroffen wird, während es zur Erkenntniß der Natur der unausgesehten sorgfältigsten Beobachtung bedarf. Auch Hamlet kann nur dann begriffen werden, wenn jeder Zug seines Wesens scharf in's Auge gefaßt und seine Entwickelung Schritt für Schritt mit der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt wird. Die Untersuchung des Herrn S. genügt dieser zwiefachen Anforderung in hohem Grade; ebendarum hat sie zu sehr erheblichen und werthvollen Resultaten geführt.

Nach der gewöhnlichen Auffassung, die bekanntlich von Goethe zuerst geltend gemacht und auch von Gervinus neuerlich adoptirt worden ist, hat Shakespeare in Hamlet eine Persönlichkeit darstellen wollen, welche, zu einer großen That berufen, aber unfähig, sie zu vollziehen, an diesem Widerspruche des Könnens und Solleus, der gegebenen Anlage und der gebotenen Pflicht zu Grunde geht. Man hat dann ferner, um die rein negative Bestimmung der Untüchtigkeit zum Handeln mit einem positiven Inhalte zu erfüllen, die contemplative Natur Hamlets in den Vordergrund gerückt und den sich in ihm vollziehenden Prozeß als die nothwendige Selbstauflösung des einseitig in sich verharrenden theoretischen Geistes bezeichnet. Hamlet das ist die Quintessenz dieser Ansichtfällt, weil ihm, dem gebornen Denker, die Aufgabe gestellt wird, in das praktische Leben selbstthätig einzugreifen. Man findet daher die eigentliche Ursache und den wahren Anfang des inneren Zwiespaltes,

dnrch welchen seine innere Lebenskraft allmålig verzehrt wird, in der Aufforderung des Geistes, die an ihm begangenen Frevel zu rächen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß diese Annahme durchaus grundlos ist. Man hat auffallender Weise ganz überseben, daß die geistige Zerrüttung Hamlets schon bei seinem ersten Auftreten der Berzweiflung sehr ähnlich sieht, und durch das Zusammentreffen mit dem Bater nicht erst begründet, sondern nur befestigt und zu einem höheren Grade_gesteigert wird. Herr S., der diese Thatsache nicht wie seine Vorgänger außer Acht gelassen hat, ist, wie es scheint, eben durch sie zu einer weit richtigeren und ungleich tieferen Auschauung des Hamlet'schen Wesens hingeleitet worden. Wir kön nen hier nur die Hauptphasen, in welchen seiner Ansicht nach der Entwickelungsprozeß Hamlets verläuft, ganz im Allgemeinen andeuten.

Die Basis dieser Entwickelung, das bestimmende constitutive Element in der Bersönlichkeit Hamlets ist der subjektive Idealismus, jene eigenthümliche Form des Geistes, welche namentlich den nordischen Volksstämmen eigen und der Grund ihrer Größe wie ihrer Schwäche ist. Der unendliche Inhalt, dessen sich hier das Individuum bewußt ist, das grenzenlose Streben, die universelle Tendenz, von der es beherrscht wird, heben es über alle Schranken der äußeren Welt, über jede Besonderheit der mannigfachen Erscheinungen, die den Umkreis des objektiven Daseins erfüllen, hinaus. Der Mensch ist auf diesem Standpunkte unbedingt frei, weil Nichts von dem, was außer ihm liegt, Gewalt über ihn hat; er lebt überdem mit sich und der Welt in vollkommener Harmonie, weil das stets lebendige Bewußtsein seines unendlichen Werthes durch das Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit noch nicht getrübt wird und die Welt ihm nicht in ihrer Wahrheit, sondern ledig lich als der Refler seines eigenen Wesens Gegenstand ist. Der subjektive Idealist erkennt die Wirklichkeit nur insoweit an, als er sich selbst in ihr wiederzufinden vermag. Es sind daher die persönlichen Verhältnisse der Pietät, Freundschaft, Liebe u. s. w., welche seine Lebensthätigkeit vorzugsweise absorbiren und zugleich den Zusammenhang mit der Außenwelt, die ihm an sich fremd und gleichgültig ist, vermitteln.

Es ist nicht möglich, daß sich der Mensch rein auf sich selber stelle, wenn er nicht dem Untergange anheimfallen will; die Einheit mit der Belt ist der Grund und die Bedingung seines Lebens. Kann die Verbindung mit ihr keine unmittelbare sein, so muß er sie sich per procuram vermählen. Eine solche Vertretung bet sich Hamlet in seinen Eltern dar; seine tief innerliche Natur, die ihm nicht ges stattete, aus sich heraus und mit der äußeren Welt in einen lebendigen Conner zu treten, fand in der Kraft und Würde des Baters, wie in der treuen, hingebenden Liebe der Mutter die Gewähr ihres eigenen Inhaltes und einen sicheren Boden, eine feste Unterlage, auf der sie sich frei und ungestört entfalten durfte. Das unbegrenzte Vertrauen, mit welchem er zu seinen Eltern_hinaufblickte, begründete und ituzte die von keinem Zweifel berührte Zuversicht zu sich selbst, und machte es ihm möglich, sich den unbefangenen Glauben an die Wahrheit der Welt ungetrübt zu erbalten. Es war gleichsam der festgefügte Anker, an welchem sich das Schiff seines Lebens in rubigem Gleichgewichte gefahrlos auf- und niederbewegte. Man fonnte erwarten, daß in dem Augenblicke, wo die sesselnde Kette zerbrochen würde, das Fahrzeug, sich selbst überlassen und des kundigen Führers entbehrend, nicht im Stande sein werde, der von allen Seiten andrängenden Sturmfluth zu widerstchen.

Das Gebäude des inneren und äußeren Glücks, in welchem Hamlet seit seiner frübesten Jugend gewohnt hatte, ruhte auf der vollen Integrität des häuslichen Kreises, dem er angehörte. Es begann zusammenzubrechen, sobald dieses Fundament anfing untergraben zu werden; die Auflösung des einen hatte den Ruin des andern zur unmittelbaren Folge. Herr S. zeigt sehr gut, wie die fortschreitende Zerrüttung Hamlets in ihren verschiedenen Stadien durch den physischen und moralischen Untergang seiner nächsten Angehörigen bedingt wird. Der plößliche Tod des Baters, in welchem er das Ideal des Mannes und Herrschers zu verehren gewohnt war, die Thronbesteigung des Oheims, dessen Persönlichkeit seinem moralischen und ästhetischen Sinne gleich widerwärtig ist, das despotische Regiment, welches nunmehr an die Stelle der früheren ebenso milden wie gerechten Regierung

tritt und schwer auf dem Volke lastet, während es zugleich den feigen Knechtssinn der Großen nährt und offen legt, vor Allem aber die schnelle Heirath der Mutter, welche, da ihre Liebe zum Gatten für Hamlet „das Symbol der weiblichen Liebe überhaupt,“ und darum auch die Gewähr der Liebe Opheliens zu ihm selbst gewesen war, durch ihren Unbestand seinen Glauben an die eigene Geliebte im tiefsten Grunde erschüttert, so daß es zur vollständigen Ertödtung desselben kaum noch der faktischen Auflösung des Verhältnisses bedarf, welche Ophelie, dem Gebote des Vaters gehorsam, herbeiführt - das sind die schnell sich folgenden Greignisse, durch welche Hamlet bereits an den Rand der nur noch im Selbstmorde Rettung erbli ckenden Verzweiflung geführt worden ist, als ihm der Geist seines Vaters die eigents liche Bedeutung und den wahren Urheber jener Vorgänge enthüllt.

Der Verf. bemerkt mit Recht, daß nach dem, was vorhergegangen, „die Gr zählung von dem Morde auf Hamlet keine andere Wirkung üben kann, als daß ste ihm vollends allen Glauben an die sittlichen Mächte aus der Brust reißt.“ (S. 8.) Hamlet ist unfähig, den Auftrag des Geistes zu vollziehen, weil er, mit sich selbst zerfallen, sich nicht zu jener vollen, ungetheilten Hingebung concentriren kann, welche rie nothwendige Vorausseßung des Handelns ist. Die leidenschaftliche Haft, mit der er auf die Mahnung zur Rache eingeht, das feierliche Gelöbniß, durch welches er sich ihrer Ausführung weiht, darf uns über die wahre Sachlage nicht täuschen. Hamlet steht (von Anfang an) mit seinem Geiste außerhalb der Sache, die durch ihn verwirklicht werden soll, ist nicht von ihr ergriffen, und bleibt daher den Zweifeln über ihr Gelingen ausgeseßt.“ (S. 127.) Auch ist er førtwährend zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu ausschließlich dem Bewußtsein seiner eigenen Leiden hingegeben, um fremdem Geschicke eine aufrichtige, thatkräftige Theilnahme zuwenden zu können. Zwar gedenkt er hin und wieder der Pflicht, die er den Manen des Vaters schuldet, aber dies ist, wie Herr S. zur vollen Evidenz nachweist, immer nur dann der Fall, wenn der Haß gegen den Öheim, welcher übrigens mehr den Zerstörer des persönlichen Glücks, als den Mörder des Vaters trifft, durch die Vorkehrungen desselben momentan zur leidenschaftlichen Wuth entflammt wird. Die Ansicht des Verf., daß dem Könige von Seiten Hamlets gar keine ernstliche Gefahr drohen würde, wenn er sie nicht durch seine der Furcht entspringenden Maßnahmen selbst herbeiführte, ist ohne Zweifel durchaus begründet. Auch stimmen wir ihm unbedingt bei, wenn er, der gewöhnlichen Annahme entgegen, behauptet, daß Hamlet in den Augenblicken, in welchen es ibm mit der Züchtigung des Verbrechers wirklich Ernst ist, nicht den heimlichen Mord desselben, sondern eine öffent liche Anklage und gesetzliche Verurtheiling beabsichtige.

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Die Enthüllungen des Geistes baben das schon vielfach gelockerte Band, wele ches Hamlet mit der Welt verknüpfte, vollständig aufgelöst; der naive Glaube an die Güte und Wahrheit der ihn umgebenden Dinge und Menschen ist in sein gera des Gegentheil verkehrt; er sicht, wohin er den Blick auch richtet, nur Beuchelei oder Verbrechen, gemeine Natur oder raffinirte Gemeinheit. Unter diesen Umständen bleibt ihm, wenn er fortleben will, ohne wahnsinnig zu werden," nichts übrig, als sich der Welt, die ihm als böse gilt, gegenüberzustellen, und das Gute we nigstens in sich noch zu behaupten.“ (S. 73.) Er beschließt, sich wahnsinnig zu stellen; der Schein des Wahnsinns ist die äußere Schranke, die er zwischen sich und den Menschen aufführt“ (S. 77), da er innerlich mit ihnen keine Gemeinschaft mehr haben kann. Aber dieser Wahnsinn ist zugleich „nur ein Reflex des inneren Scheines, dem er selbst verfallen ist, seitdem das Gute für ihn zum bloßen Schein geworden“ (S. 81). Denn mit Recht bemerkt der Verf., daß die Entgegenschung gegen die Welt, welche, wenn sie auch in ihren einzelnen Erscheinungen den Geist des Guten verleugne, doch an sich der wahrhafte Träger der sittlichen Ideen sei, den Menschen ausschließlich seinem eigenen, leeren Selbst, d. h. „dem eigentlichen Echeine" überantworte.

Indem sich Hamlet zur Objektivität in einen feindlichen Gegensatz stellt, um das Böse, von dem sie seiner Ansicht nach erfüllt ist, zu bekämpfen, wendet er sich in Wahrheit gegen das Prinzip des Guten selbst, das er ihr gegenüber zu bebaup ten die Absicht hat (S. 102). Es ist nicht anders: wer aus der Verbindung mit

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