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trachtung ist auch Herrn S. nicht entgangen und der Grund, daß er statt der bisher üblichen Darstellungsweise eine andere von ganz verschiedenem Gharakter_gewählt hat. Es wird das Beste sein, wenn wir ihn über sein Verfahren und dessen Motive selber reden hören.

„Der Weg," heißt es im Vorworte zu Hamlet, „den ich verfolgte, um das mir vorgesteckte Ziel zu erreichen, ist der der freien Reproduktion des Kunstwerks; er sollte meinen Lesern die Dornen der Reflektion ersparen, die den Genuß stets stört und damit auch der Erhebung in den Weg tritt; er sollte fie-vielmehr recht in den Mittelpunkt des Dramas führen, um es von da nach allen Seiten durch geistiges Schauen zu erfassen und ihnen dadurch Genuß so wie Erhebung sichern, daß er es ihnen möglich machte, mit den Menschen selbst zu leben, die ihr Interesse für sich in Anspruch nehmen.“ Man sieht, es ist die Absicht des Verf., die einzelnen Dramen nicht sowohl zu erklären, als sich selbst erklären zu lassen. Sie sollen in der wissenschaftlichen Darstellung vor dem geistigen Blicke des denkenden Lesers etwa in derselben Weise entstehen und sich entwickeln, in welcher sie auf der Bühne an dem finnlichen Auge des Zuschauers vorübergeführt werden. An die Stelle der zergliedernden Analyse tritt die genetische Construktion, welche nicht wie jene das im Einzelnen befangene und an der Oberfläche haftende Denken, sondern die auf das Ganze gerichtete und zum innersten Kerne des Gegenstandes vordrin gende Anschauung zu ihrem Organe bat. Es unterliegt keinem Zweifel: der Gedanke, auf welchem die angedeutete Methode beruht, ist ebenso eigenthümlich wie finnreich. Auch läßt sich nicht leugnen, daß derselbe in entsprechender Weise durchgeführt, die Interpretation des Kunstwerks zu dem machen würde, was sie ihrem Wesen und Zwecke nach sein soll, zu einem Spiegel, in welchem sich der Inhält desselben dem Bewußtsein treu und vollständig reflektirt.

Wir wollen hier nicht genauer untersuchen, inwieweit dem Verf. die Lösung seiner allerdings höchst schwierigen Aufgabe gelungen ist. Die formelle Seite der Darstellung dürfte das Interesse der Leser des Archivs nicht in so hohem Grace in Anspruch nehmen, daß sich eine eingehende Grörterung derselben an dieser Stelle echtfertigen ließe. Es mag daher die allgemeine Bemerkung genügen, daß Herr S. dem Ziele, welchem er zustrebte, im Ganzen sehr nahe gekommen ist, wenngleich manche Schwächen und Unvollkommenheiten auch hier dafür zeugen, daß die volle Verwirklichung einer an sich richtigen aber neuen Idee nur ällmålig erreicht werden kann.

Wir bemerkten oben, daß die Darstellung des Herrn S. sich von der seines nächsten Vorgängers nicht blos der Form nach, sondern ebenso von der Seite ibrer materiellen Beschaffenheit wesentlich unterscheide. Es sei uns gestattet, diesen Unterschied etwas schärfer hervorzuheben; die Parallele ist das beste Mittel, die charakteristischen Züge eines Gegenstandes in ein möglichst helles Licht zu stellen.

Man kann sagen, daß es Gervinus in seinem Shakespeare mehr um n Dichter wie um dessen Dichtungen, und weit weniger um den Dichter als um die Menschen zu thun gewesen ist. Es ist nicht der große Künstler, sondern der seltene, ausgezeichnete Mensch, den er in Shakespeare verehrt und der Berehrung Anderer empfehlen möchte; der Umfang und die Tiefe der Einsicht, die Kraft und der Adel des Charakters, das sind die Eigenschaften, die ihn fesseln und eben darum auf jeder Seite seines Werkes gefeiert werden. Das Interesse, welches Gervinus an dem großen Britten nimmt, ist vorzugsweise an die Person desselben geknüpft; seine Dramen haben daher nur insofern für ihn Bedeutung, als sich diese Persönlichkeit in ihnen abspiegelt, ihr Denken und Glauben, ihre Änsichten und Grundsäge durch sie einen objektiven Ausdruck erhalten. Die Dichtungen Shak. sind nach der Auffassung von Gervinus nur die Illustrationen seines inneren Lebens; er betrachtet und schäßt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern lediglich als Produkte des welts und menschenkundigen und zugleich sittlich-gediegenen Geistes, der sie geschaffen hat. Die Analyse der einzelnen Dramen ist bei ihm in der Hauptsache stets eine Erz läuterung ihres Ursprungs; sie geht durchgängig darauf aus, zu zeigen, wie sie aus den Gedanken oder Empfindungen, den Erfahrungen oder den Studien, kurz aus

irgend einer bestimmten, theoretischen oder praktischen Beziehung des Dichters zur Welt und zum Leben entstanden sind.

Die Shakespeare'schen Dichtungen sind für Gervinus nur das Mittel, ihren Urbeber kennen zu lehren und zu verherrlichen; der Nachweis des Zusammenhanges, welcher sie mit der geistigen und sittlichen Entwickelung desselben verknüpft, und die Grläuterung der sonstigen historischen Beziehungen, die sie darbieten, sind die beiden Bunite, mit welchen sich der größte und zugleich verdienstvollste Theil seines Werles beschäftigt. Wir stellen freilich nicht in Abrede, daß auch für die Kenntniß des innern Gehaltes der einzelnen Dramen manches geleistet worden, Composition, Handlung und Charaktere derselben vielfache Aufklärung erhalten haben. Doch ist es darum nicht minder gewiß, daß nach dieser Seite hin Gervinus' Darstellung im Ganzen wenig befriedigt; auch wo sie das Richtige trifft — und das ist nicht grade oft der Fall ist sie mangelhaft und unvollständig. Man kann sich hierüber nicht wundern, wenn man sich dessen erinnert, was wir vorhin über die Ges sichtspunkte, welche für Gervinus maßgebend gewesen sind, bemerkt haben. Wo das Kunstwerk nicht an und für sich selbst, sondern ausschließlich oder doch vorzugsweise in seinem Verhältnisse zu anderen, außer ihm liegenden Momenten betrachtet wird, muß die Gyposition desselben nothwendig einen einseitigen fragmentarischen Charakter erhalten.

Ueberdem, es verhält sich mit jeder ächt künstlerischen Produktion ebenso, wie mit dem unmittelbaren Leben, aus welchem sie ihren Inhalt schöpft; die Erkenntniß des einen wie der andern ist um so genauer und vollständiger, je weniger der Beobachter durch sich selbst gebunden, oder, was auf dasselbe hinausläuft, je univerz seller seine Natur und Anschauungsweise ist. Nur in dem Maße, in welchem man von der eigenen persönlichen Bestimmtheit abstrahiren kann, ist es möglich, sich in den objektiv gegenüberstehenden Gegenstand zu versenken. Eine solche Abstraktion aber ist nur da und insofern thunlich, wo und als sie unnöthig ist; die Fähigkeit, von sich abzusehen, fällt durchweg mit der natürlichen Gxpansivkraft, deren Stärke mit der größeren oder geringeren Allgemeinheit des Geistes in geradem Verhältnisse steht, zusammen. Eben deßhalb ist sie bei Gervinus nur in einem geringen Grade vorhanden. Die geistige Physiognomie dieses Mannes hat ein sehr ausdrucksvolles aber auch sehr individuelles Gepräge; fie gehört einer tüchtigen, durchgebildeten, achtunggebietenden Persönlichkeit an, die aber zu entwickelt, zu abgeschlossen, zu selbstherrlich ist, um nicht in sich selbst befangen zu sein. Sein Auge hat gleichsam zu viel eigenes Licht, um die Gegenstände, auf die es sich richtet, in ihrem, d. h. im wahren Lichte aufsassen zu können. Die bestimmten Ansichten, Ueberzeugungen, Grundsäße, zu denen er sich bekennt, find das Medium, in welchem die Gestalten der Dinge fich feinem Blicke in zwar sehr scharfen, aber nicht immer in den richti gen Umrissen darstellen. Gervinus hat die Dichtungen Shakespeare's nur insoweit begriffen, als ihr Inbalt in seinen scharf umgrenzten Gesichtskreis fällt. Und dieser Kreis ist, wenn er auch viel weiter reicht wie der Horizont aller seiner Vorgänger, doch zu beschränkt, um die Schöpfungen des großen Dichters ihrem ganzen Umfange nach zu umsrannen.

Es ist öfters, und nicht mit Unrecht, behauptet worden, daß zur richtigen Auffassung und Erklärung eines Kunstwerks eine künstlerische Natur erfordert werde, Bir glauben, es nicht erst beweisen zu müssen, daß eine solche Natur Niemandem weniger als dem Historiker, von welchem bis dahin die Rede war, zugesprochen werden kann. Jedenfalls ist gewiß, daß dieselbe Herrn S., wenn wir ihn in dieser Beziehung mit seinem Vorgänger vergleichen, in weit höberem Grade eignet. Das unter scheidende Kennzeichen des Künstlers und das charakteristische Merkmal seiner Werke it das Moment des Idealismus. Die durchaus realistische Denkweise, welche von Gervinus keinen Augenblick verleugnet wird, gestattet diesem Elemente kaum irgend welchen Zugang. Dagegen gibt es in der Anschauungsweise des Herrn S. einen schon bedeutsamen, ja man kann sagen, den vorherrschenden Faktor ab. Man wolle uns indeß nicht mißverstehen. Wenn wir die Richtung des Herrn S. als eine vorwiegend idealistische bezeichnen, so meinen wir damit nicht, daß sie der Realität abgewandt, sondern nur dies, daß sie der innersten und allgemeinsten Wahrs

heit des unmittelbar Gegebenen zugekehrt sei. Diese Wahrheit des natürlichen Daseins aber ist es, die der Künstler in seinen Werken zur Darstellung bringt; der Unterschied zwischen der Kunst und dem Leben, das sie reproduzirt, beruht in lehter Instanz auf der Differenz des Wahren und Wirklichen. Wir wissen recht wohl, daß diese Differenz im Grunde eine Täuschung ist. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß sie besteht und ebensowenig bestreiten, daß der Sinn für das Bahre von dem für das Wirkliche verschieden und nur sehr selten mit ihm in ein und derselben Person verbunden ist.

Wo es gilt, das was ist, in seiner eigenthümlichen Bestimmtheit zu erkennen und zu figiren, entwickelt Gervinus eine Klarheit und Schärfe der Auffassung, die schwerlich von irgend Jemandem überboten werden wird. Wo es aber darauf ankommt, die jenseits der finnlichen und verständigen Wirklichkeit liegenden wesentlichen Ideen und allgemeinen Formen derselben zu bestimmen, läßt uns seine Darstellung durchgehends im Stich, weil ihm dieses Gebiet so gut wie ganz verschlossen ist. Man lese z. B. eine der Schilderungen, in welchen er die Hauptcharaktere der vers schiedenen Dramen zu zeichnen sucht, und man wird gestehen müssen, daß sie, was die lebendige und anschauliche Vergegenwärtigung der einzelnen Charakterzüge ans geht, kaum etwas zu wünschen übrig lassen. Fragen wir aber nach dem inneren Bande, das die mannigfachen Aeußerungen der dargestellten Persönlichkeiten zur Einheit des Wesens verknüpft, nach der substantiellen Grundlage der Gharaktere, nach der einheitlichen Idee, welche sie als die belebende Seele durchdringt und ers füllt, so erhalten wir keine oder doch nur eine ungenügende Antwort.

Es ist daher sehr erwünscht, daß Herr S. grade diesem Punkte seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt hat. Ihm liegt weniger daran, die Beschaffenheit der Gharaktere zu ermitteln, als es ihm darum zu thun ist, ihre Bedeutung zu erforschen. Sein Blick ist nicht nach Oben, auf die Zweige und Ausläufer des Stammes, sondern auf die in der Tiefe liegenden Wurzeln desselben gerichtet. Gr sagt uns nicht blos, wie die Charaktere geartet, sondern vor Allem, wie sie ge worden sind, und begnügt sich nicht damit, ihre besonderen Manifestationen, wie fie eben hervortreten, einfach anzugeben, sondern ist zugleich eifrigst bestrebt, sie aus ihrer einbeitlichen Quelle, aus der allgemeinen, grundwesentlichen Bestimmtheit der sich in ihnen bethätigenden Personen abzuleiten. Seine Darstellung ist dem Haupts inhalte nach analytische Begründung, nicht synthetische Beschreibung; sie be schäftigt sich weniger mit dem Was als mit dem Warum, und ruht nicht cher, bis fie die lehten und allgemeinsten Gründe an's Licht gezogen hat.

Es ist, wie bekannt, eine Eigenthümlichkeit des Shakespeare'schen Dramas, durch welche es sich namentlich von den szenischen Kunstwerken der Alten unters scheidet, daß die Charaktere in ihm entschieden die Hauptsache sind, während die Handlung als solche nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Wir glauben nicht, daß man im Rechte ist, wenn man, wie das heut zu Tage ziemlich allgemein geschicht, in dieser Abweichung nur einen Vorzug erblicken will. Wohl aber kann sie dem Erklärer Shakespeare's zur Rechtfertigung dienen, wenn er nicht die äußere Handlung und deren Verlauf, sondern die bandelnden Personen und deren innere Entwickelung als den eigentlichen Gegenstand seiner Darstellung betrachtet. Auch Herr S. hat die starke Seite der Shakespeare'schen Kunst, die Charakteristik mit entschiedener Vorlicke behandelt, woraus man indeß nicht folgern darf, daß Anordnung und Com position der Fabel, auf welche unseres Grachtens das interdum dormitat Homerus volle Anwendung findet, seiner Beachtung entgangen wäre. Wir sagten schon, die Analyse der Gharaktere, der wir bei unserem Verf. begegnen, dringe zu dem tiefsten und innersten Kerne derselben vor. Hier fügen wir hinzu, daß sie im Allgemeinen ebenso umfassend wie tief, und nicht weniger auf die peripherische Entwickelung wie auf den centralen Einheitspunkt gerichtet ist. Das Werden und Wachsen des Gbas rakters, die Umwandlungen, die er erfährt, der psychologische Prozeß, den er durch läuft, finden in Herrn S. einen höchst aufmerksamen, nichts übersehenden, Alles, auch den geringsten Zug, den leisesten Schritt scharf in's Auge fassenden Beobachter. Die Skizzirung dramatischer Charaktere hat in neuester Zeit mit der sehr richtigen Ansicht, daß jede Persönlichkeit als der fleischgewordene Ausdruck einer

bestimmten Grundidee anzuschen sei, argen Mißbrauch getrieben. Man machte sich die überaus schwierige Aufgabe, diese Grundform der Charaktere zu ermitteln und festzustellen, außerordentlich leicht, indem man die produktive Secle des gesammten Lebensinbaltes mit irgend einem einzelnen hervorstechenden Momente desselben iden tinzirte. Es gibt nicht wenige böchst geistreiche und sehr bewunderte Gharakteristiken dieser Art, die in der That nichts weiter sind, als eine praktische Anwendung der bekannten Redefigur, die man pars pro toto zu nennen pflegt. Herr S. ist sehr weit daven entfernt, sich eine solche Gscamotage, die uns an Stelle des ganzen, lebendigen Menschen ein einzelnes abgerissenes und darum lebloses Glied desselben in die Hände spielen möchte, zu Schulden kommen zu lassen. Er hat die harte Arbeit, den ausdauernden Fleiß nicht gescheut, ohne welchen es unmöglich ist, ein inhaltreiches persönliches Leben in der Gesammtheit seiner Aeußerungen zu ergrei fen und zu verstehen. Er hat sich überdem mit einer seltenen Hingebung in das fremde Leben, dessen Berständniß erschlossen werden sollte, vertieft, und ist eben dadurch in den Stand gesezt worden, dessen Natur und Bildungsgang genau und allseitig zu erkennen.

Die volle, unbefangene Hingebung an den Gegenstand, das ist immer und überall das sicherste Mittel, seiner vollständig Herr zu werden. Denn sie allein macht es möglich, den Staudpunkt der Betrachtung da zu nehmen, von wo er nothwendig im reinsten und hellsten Lichte erscheinen muß, in ihm selber. Es ist ein entschiedener Vorzug der Sievers'schen Darstellung, daß Grund und Zweck derselben ausschließlich in ihrem Objekte liegt, daß sie einzig und allein von dem Interesse an der in ihr behandelten Sache geleitet und beherrscht wird. Die Persen des Dichters, welche Gervinus überall in der Vordergrund stellt, tritt bei Herrn S. durchaus zurück; während jener nicht müde wird, die Größe des Dichters und Menschen vreisend hervorzuheben, läßt dieser den Ruhm des Meisters lediglich durch seine Berke verkündigen. Für Gervinus find die Dichtungen Shakespeare's nur der Beg, welcher seinen Blick zu ihrem Urheber hinüberleitet; für Herrn S. dagegen das letzte Ziel, an welchem sein Auge unverwandt haftet; sie haben für den erteren die Bedeutung eines Mittels, dem leßteren sind sie Selbstzweck.

Bon Shakespeare ist in den vorliegenden Abhandlungen nur sehr selten, und auch dann meist kurz und im Allgemeinen die Rede. Es geschicht nicht eben oft, das irgend eine bemerkenswerthe Eigenthümlichkeit seiner Auffassung oder ein charakteristisches Merkmal seiner Kunstweise ausdrücklich hervorgehoben und eingehend erörtert wird. Der Verf. hat die Frage nach der Genesis der Dramen bei seiner Bearbeitung zur Seite liegen lassen; er kümmert sich weder um ihren geistigen Ur serung, der in der Seele des Dichters zu suchen ist, noch um ihre materielle Quelle, die in den historischen Vorausschungen verborgen liegt; er nimmt sie, wie sie eben find, als die fertigen, vollendeten und auf sich selber ruhenden Produktionen des künstlerischen Genius, dessen schöpferische Hand sie gebildet hat. Wenn Gervinus sich überall nach dem Grunde dieser Bildungen erkundigt, nach dem Zwecke, welchem sie dienen, nach der Meinung, die sie vertreten sollen, so forscht Herr S. nur nach dem, was sie an sich selbst bedeuten. Es ist ihm gleichgültig, wie sie sich zú dem persönlichen Denken und Streben des Dichters verhalten, ob derselbe eine Ansicht oder eine Maxime, eine Mahnung oder einen Trost, eine Warnung oder eine ermunternde Lebre bat aussprechen wollen. Oder vielmehr, er ist überzeugt, daß die Frage nach der Stimmung und Absicht des Künstlers bei der Würdigung eines Kunstwerks, wenn auch nicht unstatthaft, so doch eine Frage von untergeordneter Bedeutung ist.

Jede wahrhaft künstlerische Schöpfung wird in demselben Augenblicke, in weldem sie an's Licht tritt, majorenn; ihre Selbständigkeit datirt von dem Mos ment ihrer Geburt; sie ist gleich im Beginne ihres Daseins sui juris und keiner väterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt unterworfen. Vermöge dieser unbeding ten Autonomie bildet sie eine Existenz für sich, die, weil sie lediglich auf ihrer eigenen Kraft basirt, auch nur aus ihr selbst begriffen und erklärt werden kann. Wie Alles, was dem Bereiche des Lebens angehört, hat auch das Kunstwerk seinen Ur: sprung und seine Bestimmung in sich. Es bedeutet nicht mehr, aber auch nicht

weniger, als es ist; der Umfang seines wirklichen Inhaltes ist zugleich das Maß seines Werthes. Herr_S. hat sich, um den inneren Gehalt und den wahren Sinn der Shakespeare'schen Dramen zu ermitteln, ausschließlich an sie selber um Auss kunft gewandt, und damit unseres Erachtens den einzigen Weg eingeschlagen, auf welchem eine richtige und vollständige Lösung der gestellten Aufgabe zu erreichen ist. Der beste Interpret eines Kunstwerks ist ohne Zweifel es selbst; es kommt aber nur darauf an, ihm die Zunge zu lösen, damit es die Geheimnisse seines Wesens offenbare. Freilich ist diese Operation mit nicht geringen Schwierigkeiten verknüpft; es wird nicht Jedem gelingen, sie so befriedigend auszuführen, wie dies vom Verf. der in Rede stehenden Abhandlungen gerühmt werden darf.

Wir haben bis dahin den allgemeinen Charakter der vorliegenden Darstellung wenigstens in dem einen oder anderen ihrer Hauptzüge zu zeichnen versucht; es dürfte nun an der Zeit sein, ein Wort über ihre speziellen Resultate zu sagen. Auch können wir versichern, daß uns die Neigung dazu keineswegs fehlt; wir würz den dem Verf. sehr gern in das Detail seiner Ausführungen folgen, wiewohl wir uns in dem Falle befinden, dem Inhalte derselben fast durchweg ohne allen Borbehalt zustimmen zu müssen. Es gibt, auch wenn die Auffassung im Allgemeinen getheilt und das Ergebniß im Ganzen gebilligt wird, der Stellen gar manche, wo man einen Zweifel zu äußern, einen Einwand zu erheben oder auch eine Grgänzung zu fordern hat. Indeß, der uns zugemessene Raum gestattet nicht, eine kritische Prüfung des Einzelnen zu unternehmen. Ein kurzer Hinweis auf einige der neuen und eigenthümlichen Ansichten, die Herr S. in seinen beiden Aufsägen entwickelt und begründet, ist Alles, was wir uns erlauben dürfen.

Kein Shakespeare'scher Charakter ist in neuerer Zeit so oft und aus so mannigfachen Gesichtspunkten besprochen worden, wie der Hamlets. Dennoch wird Nies mand behaupten wollen, daß diese geheimnißvolle Erscheinung nach allen Seiten genügend aufgeklärt sei. Der Grund, aus welchem es so schwierig ist, das sie umgebende Dunkel vollständig aufzuhellen, liegt nach unserem Dafürhalten in dem Umstande, daß der Charakter Hamlets ein mehr weibliches als männliches Gepräge hat, oder, was die Sache noch genauer bezeichnen dürfte, daß Hamlet nicht sowohl ein Charakter als eine Natur ist. Der Charakter hat feste, bestimmte Grundzüge, die sich unschwer erkennen und fixiren lassen; zugleich ist seine Entwickelung, weil sie durch diese leicht faßbaren Elemente durchgängig bedingt wird, so klar und durchsichtig, daß sie in vielen Fällen fast a priori construirt werden kann. Die Natur dagegen bewegt sich auf einer Basis, die um so weiter zurückweicht, je tiefer man in sie eindringt, und zeigt in der Regel eine Reihe von Entfaltungen, deren Folge und Zusammenhang nicht das zweifellose Gesch, sondern die unberechenbare Laune zu bestimmen scheint. Der Charakter erschließt sich daher nicht selten dem ersten scharfen Blicke, von dem er getroffen wird, während es zur Erkenntniß der Natur der unausgesetzten sorgfältigsten Beobachtung bedarf. Auch Hamlet kann nur dann begriffen werden, wenn jeder Zug seines Wesens scharf in's Auge gefaßt und seine Entwickelung Schritt für Schritt mit der gespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt wird. Die Untersuchung des Herrn S. genügt dieser zwiefachen Anforderung in hohem Grade; ebendarum hat sie zu sehr erheblichen und werthvollen Resultaten geführt.

Nach der gewöhnlichen Auffassung, die bekanntlich von Goethe zuerst geltend gemacht und auch von Gervinus neuerlich adoptirt worden ist, hat Shakespeare in Hamlet eine Persönlichkeit darstellen wollen, welche, zu einer großen That berufen, aber unfähig, sie zu vollziehen, an diesem Widerspruche des Könnens und Sollens, der gegebenen Anlage und der gebotenen Pflicht zu Grunde geht. Man hat dann ferner, um die rein negative Bestimmung der Untüchtigkeit zum Handeln mit einem positiven Inhalte zu erfüllen, die contemplative Natur Hamlets in den Vordergrund gerückt und den sich in ihm vollziehenden Prozeß als die nothwendige Selbstauflösung des einseitig in sich verharrenden theoretischen Geistes bezeichnet. Hamletdas ist die Quintessenz dieser Ansicht fällt, weil ihm, dem gebornen Denker, die Aufgabe gestellt wird, in das praktische Leben selbstthätig einzugreifen. Man findet daher die eigentliche Ursache und den wahren Anfang des inneren Zwiespaltes,

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