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Wer in der Natur lebt und, wie es bei dem Menschen der Fall ist, mit einem Theile seines Wesens mit ihr zusammen hängt, hat auf der Einen Seite Ansprüche auf ihre Segnungen; aber er muß auf der anderen auch ihrer zerstörenden Wirkungen stets gewärtig sein. Und hier gilt es nun nicht, ob du gut oder böse, fromm oder ruchlos bist — mit dem Geistigen und Moralischen stehen die Wirkungen der Natur nicht im mindesten Zusammenhange; mit demselben eisernen Schritte, mit dem die Natur vor Jahrtausenden das Lebende zermalmte, um Neues zu bilden, mit demselben schreitet sie noch jezt "unfühlend" einher; ste sendet Donner und Bliz, Regen und Sonnenschein; der Strahl, der hernieder fährt, sucht nicht den Palast des Schuldigen und das Haupt des Gottlosen -er trifft auch die Hütte des Armen; er erschlägt auch das schuldlose Kind. Der Sturm, der das Meer in seinen innersten Tiefen aufwühlt, verschlingt nicht immer das Schiff, auf dem ein Gottesleugner *) fährt; wohl aber begräbt er das Schiff der Reinen und Gottesfürchtigen in des Meeres Tiefen. Daß das Walten aller Naturkräfte und Elemente ein gleis ches sei, bedarf wohl nicht der weiteren Ausführung.

Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Faßt bald des Knaben
Lockige Unschuld,

Bald auch den kahlen
Schuldigen Scheitel.

Ebenso verhält es sich auch mit denjenigen Wirkungen und Ereignissen, die von der Natur ausgehen und auf ihr beruhen, oder, wenn sie in der Menschenwelt vorkommen, von keinem bestimmten Willen herrühren, sondern durch ein Ungefähr in eine gewisse Verbindung gesezt worden sind. Der Grieche erhebt dies launenhafte Spiel zu einer Göttin und nennt sie Tyche; der Römer hat seine auch uns bekannte Fortuna, und wir nennen den Zufall, bringt er Gutes, Glück; bringt er Böses, Unglück; das Wort Schicksal umfaßt beides, wie auch das lateinische und griechische Wort; denn wie oft ist das für den Einen Glück, was für den Anderen das größte Unglück ist.

*) Ich beziehe mich hier auf die bekannte Geschichte des Diagoras. Cic. de N. D. 3, 37 in.

Gar malerisch ist nun in dieser Stelle der Ausdruck: das Glück tappt unter die Menge. Wir sehen den Zufall, wie er mit vers bundenen Augen auf dem vollgedrängten Markte des Lebens umher. wandelt, und ein Mal um das andere die Hand umhertappend ausstreckt und seine Gaben des Glücks und Unglücks austheilt; jezt der lockigen Unschuld den Todeskelch reicht; jezt auf den kahlen schuldi gen Scheitel ein unverdientes Glück legt. Auch hier waltet keine nach Verdienst waltende höhere Einsicht; keine der Schuld gemäß strafende Hand; den Elementen wie dem Glücke ist der Mensch ein Spielball, blinder Willkür preisgegeben *).

Nach ewigen, ehernen
Großen Gesezen

Müssen wir alle

Unseres Daseins

Kreise vollenden.

Was Gesetz der Naturordnung ist, dem ist auch der Mensch unterworfen und ihm muß er sich schweigend fügen; wir werden geboren, wir genießen, wir leiden, wir sterben und der irdische Kreislauf ist geschlossen; diesen Bedingungen des Daseins, die die Natur dictirt, ist der Höchste gleichwie der Niedrigfte unterworfen: Widerstreben gegen diese Naturgeseße, thörichte Anmaßung gegen ihre große unumstößliche Ordnung hilft auf der einen Seite nichts; auf der anderen trägt sie sogar zu um so schnellerer Vernichtung des Einzelnen bei.

Jedoch der Mensch steht auch höher als die Natur; er ist nicht bloß Körper; er hat einen denkenden Geist, hat Willen, hat Gefühl für das Schöne; tritt er als geistiges Wesen auf, dann erhebt er sich hoch über die Natur.

Nur allein der Mensch

Vermag das Unmögliche:
Er unterscheidet,

Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick

Dauer verleihen.

*) Cic. 1. 1. Sic enim res se habet, ut ad prosperam adversamve fortunam, qualis sis aut quemadmodum vixeris, nihil intersit.

Er allein darf
Den Guten lohnen
Den Bösen strafen,

Heilen und retten,

Alles Irrende, Schweifende
Nüglich verbinden.

Der Mensch vermag das Unmögliche: er zeigt dem Blize den Weg, unschädlich an seiner Wohnung nieder zu gleiten; er benugt die Elemente, die Wirksamkeit des Waffers und Feuers, zu neuen herrlichen Schöpfungen; mit dem Compaß findet er den Weg über die unermeßlichen Wüsten des Oceans; mit dem Fernrohr beobachtet er den Lauf der Gestirne und sagt ihre Veränderungen voraus: kurz, als denkendes Wesen ist der Mensch weit über die Natur erhaben; er beherrscht sie als König.

Doch auch in der ihn umgebenden Menschenwelt hat er bindende Ordnung, Recht und Gesez eingeführt: er ist es, der Gutes und Böses, Nüßliches und Schädliches gegen einander hält und unterscheidet, und dann erst seine Wahl mit Besonnenheit trifft: er ist es, der die Empfindung des Augenblicks durch Wort und Schrift fesselt, und so das, was er gedacht und empfunden, fernen Jahrhunderten überliefert. Er geht also nicht unter, sondern, obschon eine vorübergehende Erscheinung auf dieser Erde, lebt er in seinen Thaten, in seinen Werken unsterblich fort; er hat, wie die Götter selbst, Unsterblichkeit.

Wirkt er dies durch seinen Verstand, durch seine Einsicht und' Kenntniffe, so ist er als moralisches Wesen nicht minder groß. Die Natur belohnt nicht, bestraft nicht, sie wirkt nach nothwendigen Gesezen: der Mensch hingegen lohnt den Guten, straft den Bösen; er hat der Natur ihre geheimsten Kräfte abgelauscht, er heilt und rettet; er erweckt, wie die Alten von ihrem Aeskulap dichtend sagen, die Todten. Das Einzelne, Zerstreute, scheinbar zu keinem Zweck Vorhandene, weiß er in nüßliche Verbindung zu seßen, und gleich einem Gotte Neues hervorzubringen; die vereinzelten Kräfte läßt er zusammenwirken zu guten und nüßlichen, der Menschenwelt heilsamen Zweden. So hilft er dem Elend ab, öffnet Hülfsquellen der Nahrung für seine Mitbrüder, und die Künste erstehen und bevölkern die Erde mit Göttergestalten, erfreuen alle seine Sinne durch den Genuß des Schönen.

Und in diesen drei Strophen möchte ich noch aufmerksam ma

chen auf den Gedankenfortschritt in „müssen, vermag, darf," wenn schon der Dichter nicht gefliffentlich darauf Rücksicht genommen haben mag. Denn diese drei Bezeichnungen deuten doch wieder hin auf des Menschen dreifache Natur, seine körperlichen, geistigen und moralischen Beziehungen. Den Naturgesehen muß der Mensch sich unterwerfen; er vermag mit seinen geistigen Anlagen das unmöglich Scheinende; èr darf belohnen und strafen, weil in ihm ein untrügliches Gefühl wohnt, das ihm gebietet das Gute anzuerkennen, das Böse zu bekämpfen. Das höhere, umfassendere Walten der Gottheit wird auf dem geistigen und moralischen Gebiete von dem sterblichen Menschen wiederholt; er steht also der Gottheit näher als alle übrigen Wesen; er ist von ihrem Hauche angeweht und durchdrungen; er hat höhere, göttliche Berechtigungen.

Freilich an die Wirksamkeit der Götter wird der Mensch nie reichen:

Und wir verehren

Die Unsterblichen,

Als wären sie Menschen,

Thäten im Großen,

Was der Beste im Kleinen

Thut oder möchte.

Auch der Edelste und Trefflichste thut höchstens im Kleinen, was jene höheren Wesen in unendlich größerem Maaßstabe, im Bezug auf die Welt im Ganzen genommen thun. Doch auch das Kleine ist Verdienst des Menschen, das ihm Niemand rauben oder schmälern kann; und indem er in seinem kleinen Leben den Göttern gleich zu handeln strebt, indem er das Gute befördert, dem Bösen steuert und abhilft, erfüllt er den besten Gottesdienst; einen Gottesdienst, der nicht in Worten, sondern in Thaten; nicht in träumerischem Sinnen, sondern in lebendiger, der Menschenwelt zum Heile gereichender Wirksamkeit besteht.

Und so ist der Dichter wieder bei dem Hauptgedanken, von dem er ausging, zurückgekehrt; der Kreis ist geschlossen; mit dem Accorde, mit dem der Tonkünstler seine Tonschöpfung a fing, in demselben schließt er sie, wenn er schon in mancherlei Tonarten ausgewichen und den Hauptgedanken vielfach variirt hat. Der Dichter endet so:

Der edle Mensch
Sei hülfreich und gut!
unermüdet schaff er,
Das Nüßliche, Rechte

Sei uns ein Vorbild

Jener geahneten Wesen!

Es ist wohl kaum nöthig zu bemerken, daß das ganze Gedicht mehr in antikem als in modernem Geiste gedacht und gehalten ist. Obschon die reinsten Ideen des Christenthums *) darin ausgesprochen find, manche Worte sogar unmittelbar an die Worte der Schrift erinnern, so ist doch der Ausdruck, da von den Göttern stets in der Mehrheit gesprochen wird, griechisch und erinnert an die Vorstellungen der alten Welt.

Allein solche Einkleidung, zumal da die alten Götter doch weiter nichts als Personificationen höherer Kräfte find, aus denen der abstrahirende Verstand ein allgemeines Höchste entnommen hat, muß auch dem christlichen Dichter frei gestellt bleiben **).

* Schiller in den Briefen an Göthe (v. 17 Aug. 1795.) sagt: „Ich finde in der christlichen Religion die Anlage zu dem Höchsten und Edelsten. Hålt man sich an den eigentlichen Charakterzug des Christenthums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts Anderem, als in der Aufhebung des Gesezes, an dessen Stelle das Christenthum eine freie Neigung gesezt haben will. Es ist also, in seiner reinen Form, Darstellung schöner Sittlichkeit oder der Menschwerdung des Heiligen.

**) Schiller, der sich vielfach dieselbe Freiheit nimmt, äußert sich darüber im Vorworte zur Braut von Messina folgendermaßen: „Ich halte es für ein Recht der Poesie, die verschiedenen Religionen als ein collectives Ganze für die Einbildungskraft zu behandeln. Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst, die Idee eines Göttlichen, und es muß dem Dichter erlaubt sein, dieses auszusprechen, in welcher Form er es jedesmal am trefflichsten und bequemsten findet." Indessen vgl. man hierzu Viehoff, Commentar zur Jungfrau von Orleans, S. 128.

Zwickau.

Rector Hertel.

Archiv i. n. Sprachen XI.

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