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A. Allgemeiner Teil.

I. Überblick über die geschichtliche Entwicklung der

Elementargeometrie.

Zwei Jahrtausende auf- und abwogender Geschichte haben an dem System der Elementargeometrie nicht zu rütteln vermocht. Was der Alexandriner EUKLID um 325 vor unserer Zeitrechnung schrieb, ist auch heute in Inhalt und Form der eiserne Bestand der Schulmathematik; ja, sein Lehrbuch wird, wenigstens in England, noch zuweilen unmittelbar dem Unterricht untergelegt. Nur wenige Zusätze und Fortsetzungen sind dem Euklidischen System eingegliedert, mehreres Unnötige ist ausgeschieden worden. Was der junge Grieche, der erwartungsvoll an die Tür mathematischer Weisheit klopfte, durchdenken, lernen und üben mußte, das arbeitet mit gleicher Andacht in der heutigen Zeit der strebsame Quartaner und Tertianer durch.

Welch bewunderungswürdiges Genie, einzig in der Geschichte der Mathematik, muß EUKLIDS Hand geführt haben, da er ein solches Meisterstück, wie aus einem Gusse, zu schaffen vermochte! Solche Fragen staunender Anerkennung drängten und drängen sich jedem seiner Jünger unwillkürlich auf. Der Geschichtsforscher ist kritischer. Nie ist eine Geistestat unvermittelt in die Welt getreten, sondern Forscher auf Forscher trugen, jeder nach seiner Kraft, das ihrige dazu bei, bis das Werk im Glanze dastand. Ist der, der es schließlich krönte, der Baumeister?

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Griechische Mitteilungen verweisen selbst den Ursprung der Geometrie in das Land der Nilanwohner, nach Ägypten. Die Erzählung, daß bei diesen die Geometrie allmählich durch die stets zu wiederholenden, von den jährlichen Überschwemmungen bedingten Landvermessungen entstand, ist bei HERODOT1 als Hypothese, bei

1 HERODOT, Historiae, lib. II, cap. 109, ed. DIETSCH, Leipzig 1882, S. 168.

Späteren als Tatsache überliefert worden. Der Anblick der majestätischen Pyramiden- und Tempelbauten (bis 4000 v. Chr. zurück), ihre genaue Durchforschung in Bauart, Ausschmückung und Inschriften, die wissenschaftliche Durchsicht der gefundenen Papyrusrollen, besonders des unter dem Namen „Rechenbuch des AHMES" bekannt gewordenen Papyrus Rhind3 (2000-1700 v. Chr.) geben überraschende Aufschlüsse über ägyptische Kenntnisse in der Geometrie. Ziemlich genaue Versuche in der Kreisquadratur, schwierigere Flächenberechnungen, wie am gleichschenkligen Dreieck und gleichschenkligen Trapez durch Näherungsformeln, Zerlegung von Figuren in leichter zu berechnende, ja Anfänge einer Ähnlichkeitslehre bilden den Gipfelpunkt der gefundenen Resultate. Aber hierin besteht nach der Ansicht bewährter Forscher nicht das einzige Verdienst der Ägypter; man' muß annehmen, daß sie schon geometrische Lehrbücher, besaßen, wie uns ein solches für das Rechnen durch einen glücklichen Zufall erhalten ist, und in diesen muß sich im Zusammenhang mit dem gleichsam schon fachmännisch erteilten geometrischen Unterricht eine feste, berufsmäßige formale Sprache und Satzanordnung herausgebildet haben, deren Anfänge im Rechenbuch des АHMES nachzuweisen sind, deren Ausläufer aber jene starr gefügte Euklidische Form bildet, die in ihrer Zweckmäßigkeit zu allen Zeiten rühmend anerkannt wurde.

Im Geiste der lernbegierigen, wissensdurstigen Griechen trat eine Neugeburt ägyptischer Wissenschaft ein. Zur Erweiterung trug auch das Eindringen babylonischer Gelehrsamkeit bei. Aus dieser stammt so mancherlei, was zu den Grundlagen griechischer Mathematik gehört, wie die Lehre von den Eigenschaften paralleler Linien, die Konstruktion des regelmäßigen Sechseckes, die Einteilung des Kreises in 360 Teile und verschiedene Sätze aus der Kreisund Dreieckslehre.

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2 HERON, Geometrica, cap. 2, 23; Opera 4, ed. HEIBERG 1488 S. 177, Z. 6 f., S. 399, Z. 12 f. STRABONIS Geographica, lib. 16, cap. 2, § 24, ed. Müller-Didot, II, Paris 1877, S. 644, Z. 48-56, lib. 17, cap. 1, § 3, S. 699, Z. 54 bis S. 670, Z. 7. EUDEMI Fragmenta 1, S. 113. DIODORI Bibliotheca Historica, I, 81, ed. DINDORFF-VOGEL, Bd. I, Leipzig 1888, S. 136. 3 Ein mathematisches Handbuch der alten Ägypter, Papyrus Rhind des Britischen Museums, übersetzt und erklärt von AUG. EISENLOHR, Leipzig 1877. 4 Die babylonische praktische Mathematik ist fast völlig unerforscht. Die größte Zahl der vorhandenen Keilschrifttexte ist noch gar nicht veröffentlicht, aber auch das Veröffentlichte ist nur zum Teil erklärt. Man darf also noch auf unerwartete Aufschlüsse über die antike Mathematik hoffen.

In besseren Boden als den griechischen konnte die Geometrie nicht verpflanzt werden. Mit Feuereifer gaben sich die aufstrebenden griechischen Schulen dem neuen Wissenszweige hin, den berühmte Gelehrte, wie THALES von Milet (um 624-548) und PYTHAGORAS (um 580 Samos 501 Kroton, Megapontum), von ihren Reisen aus fremden Ländern mitgebracht hatten. Zu den Erfindungen und Entdeckungen, die diesen Reisenden als Eigentum zugeschrieben werden, haben der Hauptsache nach solche gesammelten Mitteilungen besonders aus Ägypten und Babylon den Anstoß gegeben.

Bestimmte Überlieferungen verknüpfen mit dem Namen des

THALES den Lehrsatz von der Gleichheit der Scheitelwinkel und der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreiecke, die Halbierung des Kreises durch den Durchmesser, die Kongruenz zweier Dreiecke bei Übereinstimmung in einer Seite und den zwei anliegenden Winkeln. Viel weniger bestimmt sind die Angaben über die Verdienste des PYTHAGORAS um die Geometrie. Die spätere Überlieferung ist oft allzu leicht geneigt, ihm Entdeckungen zuzuschreiben, die seinen Schülern, selbst späteren, zukommen. Schon zu ARISTOTELES' Zeit waren die Leistungen des PYTHAGORAS von denen seiner Schüler nicht mehr zu trennen. Die Überschätzung des

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Meisters hält scharfer Kritik nicht stand. 20 Jahre nach dem Tode des PYTHAGORAS hat OINOPIDES (um 490 v. Chr.) eine genaue Konstruktion für die Aufgabe, von einem Punkte auf eine Gerade ein Lot zu fällen, gegeben. Wie kann da dem PYTHAGORAS die Entdeckung des Irrationalen, die geometrische Konstruktion der fünf regelmäßigen Körper zugeschrieben werden, ja auch nur der Quadratensatz am rechtwinkligen Dreieck in seiner theoretischen Reinheit? Die Benutzung von Proportionen muß man ihm zuschreiben, auch die Kenntnis regelmäßiger Körper hat er besessen, aber wohl nur auf Grund ihrer technischen Herstellung, nicht in Verbindung mit tieferen geometrischen Wahrheiten. Auch die Quadrateigenschaft 32 + 42 = 52, selbst am rechtwinkligen Dreieck, vielleicht auch noch andere ähnliche Zahlen wird er gekannt haben. Erst der Schule des Meisters verdankt die Mathematik, als reine selbständige Wissenschaft von der steten Verbindung mit

5 PROKLOS (410 n. Chr. Byzanz 485 Athen) gibt in seinem Kommentar zu EUKLID historische Erläuterungen, die er der Geschichte der Geometrie des EUDEMOS (um 334 v. Chr.; vgl. S. 7) entnommen hat. Zu THALES vgl. PROCLI DIADOCHI in primum EUKLIDIS Elementorum librum commentarii, ed. G. FRIEDLEIN, Leipzig 1873, 299, 3-4; 250, 20 ff.; 157, 10 ff.; 352, 14 ff. 6 Vgl. H. VOGT, Die Geometrie des Pythagoras, Bibl. math. 9, 1908/09, S. 65 ff. 7 PROCLUS, S. 283.

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der Praxis losgelöst, die hauptsächliche Förderung. Diese Schule beherrschte die Lehre von den Parallellinien, die Winkelsätze des Dreiecks, die Kongruenz und Flächengleichheit von Dreiecken und benutzte diese zu den sogenannten Verwandlungsaufgaben. Erst sie fand den Pythagoreischen Lehrsatz und die stetige Teilung. Von HIPPOKRATES (um 440 v. Chr.), der mit der Pythagoreischen Schule in Verbindung stand, stammt die älteste uns erhaltene griechische mathematische Schrift, die Abhandlung über die Möndchen, ein wichtiger, allerdings mißlungener Versuch der Kreisquadratur. HIPPOKRATES ist bereits die Lehre vom Kreise und den Winkeln im Kreise völlig geläufig. Seine Beweisart ist allerdings noch altertümlich. Die Beweise bis zu seiner Zeit waren mehr Erfahrungsbeweise, zerlegt in viele einzelne Sonderfälle. Die vielgerühmte griechische Strenge setzt erst mit HIPPOKRATES selbst ein. In peinlicher Genauigkeit wird die Voraussetzung gefaßt, mit ängstlicher Erwägung aller nur möglichen Einwürfe die Konstruktion der entsprechenden Figuren entworfen, auf jeden Hilfssatz beim Beweis mit breiter Umständlichkeit eingegangen, da man seine Kenntnis bei dem Zuhörer nicht voraussetzen durfte. Diesem äußerst fühlbaren Mangel aller Vorkenntnisse half HIPPOKRATES selbst ab, indem er zum erstenmal ,,Elemente" zusammenstellte. Ihre Abfassung muß nach seiner Möndchenschrift erfolgt sein, da er sich in letzterer trotz mehrfacher Gelegenheit nicht auf sie bezieht.

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Gegen Ende des Jahrhunderts, fast 100 Jahre nach dem Tode des Meisters, wird in der Pythagoreischen Schule eine folgenschwere Entdeckung gemacht, die des Irrationalen: daß es nämlich Strecken gebe, denen keine Zahl zukomme.10 Dem Lehrer PLATONS, THEODOROS VON KYRENE (um 410 v. Chr.), gelang der Nachweis der Irrationalität für √2, √3 bis √17 und damit induktiv für alle Wurzeln aus Nichtquadratzahlen. Den weiteren Ausbau der neuen Lehre vollführte PLATONS Altersgenosse THEAITET (um 390 v. Chr.) und sein Schüler EUDOXOS (410-356 v. Chr.). PLATON selbst (429-348 v. Chr. Athen) widmete sich der Grundlegung und Methodik der Mathematik; indem er jeden Satz auf Vordersätze zurückführte, gelangte er schließlich zu den Definitionen, Axiomen und Postulaten. Ihm wird der Ausbau der analytischen Methode wie der indirekten Beweisform zugeschrieben; 11 besondere Sätze, die einen Fortschritt im geometrischen 8 RUDIO, Der Bericht des SIMPLICIUS über die Quadraturen des ANTIPHON und des HIPPOKRATES II 706; daselbst S. 79 weitere Literatur. 9 PROCLUS5, S. 66, 7. 10 Vgl. G. JUNGE, Wann haben die Griechen das Irrationale entdeckt? Novae Symbolae Joachimicae. Halle 1907. 11 PROCLUS, S. 211, 18 bis 212, 4.

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