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So kann erstens verlangt werden, nur mit dem Lineal zu zeichnen, zweitens, ausschließlich den Zirkel zu benutzen.

Die alleinige Verwendung des Lineals war eine Forderung, die sich in der französischen Schule L. N. M. CARNOTS (1753-1823), des Verfassers der Géométrie de position (Paris 1803), einstellte. Es leuchtet ein, daß nur solche Aufgaben damit ausführbar sind, die, in Gleichungen umgesetzt, auf rationale Ausdrücke für die Unbekannte führen. In einer Abhandlung CH. BRIANCHONS (1783-1864, Paris) von 1818 638 werden viele Fälle gezeigt, in denen man mit dem Lineal auskommt. BRIANCHON selbst legte Wert darauf, zu betonen, daß seine Methode gerade für Vermessungsarbeiten praktische Bedeutung besitzt. Parallelen lassen sich bei ausschließlicher Benutzung des Lineals nur ziehen, wenn von einer gegebenen Strecke der Halbierungspunkt bekannt ist.

Der Italiener L. MASCHERONI (1750-1800; Pavia, Paris) suchte, dem entgegengesetzt, das Lineal ganz zu vermeiden und nur mit dem Zirkel zu zeichnen. In der Geometria del compasso gibt er 1797 639 eine Durchführung seines Prinzips und zeigt, daß nach seiner Methode alle Euklidischen Aufgaben ausführbar sind. Auch er weist auf die praktische Seite seines Verfahrens hin, das in der Technik, besonders der Mechanik, gut anwendbar sei und sehr genaues Arbeiten gestatte. CRELLE (1826) nimmt erstmalig Aufgaben dieser Art als Übungsmaterial in ein Elementarbuch auf.640 Es läßt sich übrigens beweisen, daß alle Aufgaben, die mit Zirkel und Lineal lösbar sind, auch mit dem Zirkel allein ausgeführt werden können.641

Ist bei dem Zeichnen mit dem Lineal noch ein einziger fester Kreis zugestanden, so sind, wie J. V. PONCELET (1788-1867, Paris) bemerkt,642 auch alle Quadratwurzelausdrücke konstruierbar. In der PONCELET schen Arbeit fehlt es an systematischer Durchführung des Prinzips. In dieser Beziehung vollendet ist eine Arbeit

638 Applications de la théorie des transversales, Paris 1818. 639 LORENZO MASCHERONI, La geometria del compasso, Pavia 1797, französisch von CARETTE, éd. I, Paris 1798, éd. II, Paris 1828; Nuova ed. da G. Fazzari, Palermo 1901. Deutsch von GRÜSON (Gebrauch des Zirkels, Berlin 1825); vgl. E. J. HUTT, Die MASCHERONI Schen Konstruktionen, 2. Aufl., Halle 1880; A. ADLER, Zur Theorie der MASCHERONIschen Konstruktionen, Wiener Berichte 1890; Archiv Math. Phys. 3, 1902, Anhang S. 26-28. 640 Lehrbuch der Elemente 11485, I. Anhang S. 492 (vgl. § 390, IV). 641 Vgl. die Literatur bei J. SOMMER, Math. Encykl. III A B 8, Leipzig 1914, S. 800. 642 J. V. PONCELET, Traité, Sect. III, chap. I, Nr. 351-357, S. 187-190.

des großen deutschen Geometers J. STEINER (1796-1863, Berlin), die selbst Schülern zugänglich gemacht werden kann. 643 Verschiedene der von STEINER angegebenen Konstruktionen sind schon in LAMBERTS Freyer Perspektive (1774, Zürich) 1309 enthalten.

Wird neben dem Lineal, ohne Kreis, noch ein beweglicher rechter Winkel gestattet, so kann man nicht nur alle geometrischen Aufgaben zweiten Grades, für die, wie schon DESCARTES erkannte, Zirkel und Lineal ausreichen, sondern auch die dritten und vierten Grades lösen.644

Eine letzte Möglichkeit ist noch die, das Lineal zu gestatten, den Zirkel aber mit unveränderlicher Spannweite anzunehmen. Mit solchen Konstruktionen beschäftigten sich, vielleicht angeregt durch Zeichnungen griechischer Mathematiker, wie HERONS, 645 bei denen mehr zufällig als bewußt der Zirkel unverändert gelassen wird, zuerst die Araber. Unter ihnen muß auf ABU'LWAFA (940 Persien 998 Bagdad) aufmerksam gemacht werden. Ist auch kein eigenes Werk über unseren Gegenstand von ihm auf uns gekommen, so hat sich doch eine Nachschrift seiner Vorlesungen, die einer seiner Schüler verfaßt hat, erhalten, Buch der geometrischen Konstruktionen, 646 und in dieser sind eine ganze Reihe solcher Zeichnungen vorgeführt. Zu einer ganz besonderen Liebhaberei bildete sich das Konstruieren mit konstanter Zirkelöffnung gegen das Ende des fünfzehnten und in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts bei den italienischen Mathematikern heraus. Auch namhafte Künstler und Architekten, wie LEONARDO DA VINCI (1452-1519) 647 und ALBRECHT DÜRER (1471-1528, Nürnberg)1 II 334 suchen mit Erfolg, das gerade für die Praxis geeignete Prinzip in ihrem Fache zu verwenden. Die von DÜRER wiedergegebene angenäherte Fünfeckskonstruktion mit festem Zirkel muß in Baukreisen weitverbreitet gewesen sein; sie kommt schon in der Geometria deutsch,648 dem ältesten geometrischen Druck (um 1483) vor. Weiter beschäftigte sich mit solchen Aufgaben

II 353

643 STEINER, Geometrische Konstruktionen 205, 1833; STEINERS Werke 287, Bd. I, S. 461 ff. 644 FÄRBER, Z. math. nat. Unterr. 47, 1916, S. 178. 645 ANARITIUS zu Eucl. I, 11, ed. CURTZE, S. 55: Im Endpunkt einer Strecke ein Lot zu errichten. 646 F. WOEPCKE, Extrait du traité des constructions géométriques par ABOÛL WAFâ, Journal Asiatique, Sér. V, Tome V, Paris 1855, S. 224-230, 312. Vgl. auch W. M. KUTTA, Zur Geschichte der Geometrie mit konstanter Zirkelöffnung, Nova Acta Leopold., Bd. 71, 1897, Nr. 3, S. 74, 101. 647 CANTOR 22, S. 295 ff. 648 Inkun. Nr. 1876, Berlin 128, S. 3, Z. 3: mit unverrücktem Zirkel.

SCIPIONE DEL FERRO (1465-1526, Professor in Bologna), der glückliche Entdecker der ersten Lösung kubischer Gleichungen, dann N. TARTAGLIA (1500-1567; Brescia, Venedig), und vor allem L. FERRARI (1522-1565, Bologna), der Bezwinger der biquadratischen Gleichung. Konnte TARTAGLIA alle Konstruktionsaufgaben EUKLIDS mit wenigen Ausnahmen mit einem festen Zirkel ausführen, so machte sich FERRARI anheischig, auch die Richtigkeit der Lehrsätze EUKLIDS auf diesem Wege anschaulich nachzuweisen.649 Unabhängig von beiden behandelte G. BENEDETTI (1530-1590; Schüler TARTAGLIAS) die Euklidischen Konstruktionen und veröffentlichte seine Resultate in einem 1553 zu Venedig gedruckten Werke Resolutio omnium EUCLIDIS problematum etc.

Geometrische Konstruktionen stellen, wie wir sahen, ein Hauptarbeitsfeld der griechischen Mathematik dar. Alles, was uns überliefert ist, betrifft aber nur ihre theoretische Ausführung. Schwierigkeiten im praktischen Zeichnen werden nirgends erwähnt, etwa, wie man sich zu behelfen hat, wenn die Zeichenebene nicht ausreicht, wenn Schnittpunkte sehr schwach zueinander geneigter Geraden zu bestimmen oder die Verbindungslinien sehr eng aneinander befindlicher Punkte zu finden sind u. a. Erst in der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts werden solche Konstruktionen in ungünstiger Lage besonders beachtet. W. SCHMID (1539), Das erste Buch der Geometria 650 löst gelegentlich sehr geschickt die Aufgabe: Ein ser lange scheidrechte lini mit eine kurzen Lineal zu ziehen. D. SCHWENTER (1585-1626, Altdorf) scheint der erste zu sein, der diese Aufgabengruppe in größerer Zusammenstellung bringt. Seine Geometria practica von 1618 behandelt folgende Fälle 651: 1. Eine Strecke p zu halbieren, a) deren untere Seite unzugänglich ist, b) wenn der Zirkel nur über p, bzw. nur unter p spannt, c) wenn sie übermäßig lang ist. 2. Ein Lot im Endpunkt einer Strecke zu errichten.652 3. Ein Lot auf eine zu kurze Strecke zu fällen. 4. Eine Parallele durch einen sehr nahen Punkt zu ziehen. 5. Den Schnittpunkt schwach geneigter Geraden zu bestimmen, daß sie sich bey dem Punct weit mit einander schleiffen/vnnd man also das Punct nicht wol mercken kann. 6. Den Umkreis für drei Punkte zu bestimmen, die zu nahe oder fast

649 Vgl. FERRARI und TARTAGLIA, Cartelli e risposte, 1876 von GIORDANO neu herausgegeben, Seconda risposta (1547) S. 15—18 (Tartaglia), Quinto cartello (1547), S. 25-38 (FERRARI); TARTAGLIA, General trattato, parte V, Venedig 1560, lib. III, Bl. 63 vo. 650 S. 36, Nr. VIIII 86. 651 1. Aufl. (1618), S. 30-49, 104-105; 2. Aufl. 238, 1641, S. 25-55, 111-112. 652 Schon bei PROCLUS 5, S. 281, Z. 6 ff.

geradlinig liegen. 7. Den Berührungspunkt an einem flachen Kreis zu finden. Die letztere Aufgabe findet sich schon bei A. DÜRER (1525),658 Durch SCHWENTER war das Interesse geweckt. Ein anonym erschienenes Buch von M. GLOSKOWSKI (Krakau 1643) 653a mit dem Titel 654 Geometria peregrinans, F. VAN SCHOOTEN (1657), 655 PIRCKENSTEIN (1689, Handgriffe des Zirkels und Lineals) u. a. wiederholen diese Aufgaben oder bringen einige neue hinzu.

Von besonderem Gewicht ist erst das Auftreten JAKOB STEINERS (1796-1863) 656 gewesen, der bei Lösung jeder Konstruktionsaufgabe sorgfältige Beachtung forderte, ob die Zeichnung „bloß mit der Zunge" oder wirklich auf dem Reißbrett mit dem Zeichenzeug auszuführen sei. H. WIENER stellt 1884 657 folgende Sätze auf, die „auf Erfahrung, Anschauung und Abschätzung gegründet sind":

I. Eine Gerade ist in ihrem ganzen Verlaufe um so sicherer bestimmt, je weiter die zwei Punkte voneinander entfernt liegen, welche sie bestimmen.

II. Ein als Schnitt zweier Linien bestimmter Punkt dient um so sicherer zur Bestimmung beliebiger Geraden, je mehr sich der Winkel, unter dem sich jene Linien schneiden, einem Rechten nähert.

III. Der Schnittpunkt zweier sich spitzwinklig schneidender Geraden dient demnach sicher zur Bestimmung einer dritten Geraden, wenn diese einen kleinen Winkel mit einer der beiden ersten Geraden bildet.

Sehr verdienstvoll sind die neueren einschlägigen Veröffentlichungen von P. ZÜHLKE 1906 658 und 1913,654 in denen er neben eigenen Konstruktionen eine Übersicht der bisher gefundenen Verfahren und der vorhandenen Literatur. (ohne SCHMID und SCHWENTER) gibt.

In der Neuzeit hat sich von Frankreich ausgehend eine interessante Konstruktionslehre herausgebildet, die Geometrographie, die sich fast wie ein Sport ausgebreitet hat. E. LEMOINE ging

653 Underweysung Fig. 2511834 653 Siehe T. ŽEBRAWSKI Bibliografja piśmiennictwa polskiego z działu matematyki i fizyki, Krakau 1873, S. 259-260; vgl. S. DICKSTEIN, Bibl. math. 32, 1889, S. 49. 654 P. ZÜHLKE, Konstruktionen in begrenzter Ebene, Leipzig 1913, S. 38. 655 Exercitationum mathematicarum libri V, Lugd. Bat. 1657, lib. II. 656 Gesammelte Werke 287, I, 509–510. 657 H. WIENER, Darstellende Geometrie I, 1884, S. 90. 658 Ausführung elementargeometrischer Konstruktionen bei ungünstigen Lageverhältnissen, Leipzig 1906. Weitere Literatur bei M. ZACHARIAS, Encykl. d. math. Wiss. III, A B 9, Leipzig 1921, S. 1112.

1888 659 von dem an sich richtigen Standpunkt aus, daß eine Zeichnung um so genauer ist, je weniger Handgriffe sie verlangt. Um Einfachheit und Genauigkeit zahlenmäßig zu prüfen, bezeichnet er die Grundoperationen mit Zeichen:

Einsetzen der Zirkelspitze in einen bestimmten Punkt
Einsetzen der Zirkelspitze in einen unbestimmten Punkt

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=

==

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Er zählt nun die Operationen:

11⁄2 · R2 + 12 · R2 + · C1 + 4 · C2 + 15 · C3,

und nennt Einfachheitsgrad die Summe + 12 + 3 + 4 + 15, Genauigkeitsgrad die Summe ++4. Später hat LEMOINE sein Prinzip auch auf stereometrische Aufgaben ausgedehnt. In Deutschland hat die Geometrographie tüchtige Mitarbeiter in R. GÜNTSCHE,660 J. REUSCH,661 K. HAGGE 662 u. a. gefunden. Es überrascht, daß fast sämtliche seit Jahrtausenden üblichen Konstruktionen durch neuere, günstigere und einfachere ersetzt werden konnten. Die klassische Lösung der stetigen Teilung hat einen Einfachheitsgrad von 29, die geometrographische Lösung einen solchen von 13; die Aufgabe, die vier gemeinsamen Tangenten an zwei Kreise zu legen, wurde von 92 auf 34 herabgedrückt, das Apollonische Problem von 356 (Lösung von E. E. BOBILLIER und J. D. GERGONNE) auf 152 (MOREAU).

Die LEMOINE Sche Methode hat zwei Nachteile. Sie beachtet nicht die Schwierigkeiten bei ungünstiger Lage; anderseits sind die Lösungen oft so konzentriert, daß sie unterrichtlich wegen zu geringer Übersicht schlecht verwertbar sind.663

Den exakten Konstruktionen, die bei der wirklichen Durchführung doch immer eine gewisse Ungenauigkeit besitzen, stehen die Näherungskonstruktionen gegenüber, die von vornherein.

659 Comptes rendus, 16. VII. 1888. Courte note; LEMOINE, Géométrographie ou art des constructions géométriques. Collection Scientia, Phys. Math. No. 18, Paris 1902. 660 Unterrichtsbl. f. Math. 8, 1902, S. 61 ff.; Archiv Math. Phys. 3, 1903, S. 191 ff.; 6,, 1906, S. 133 ff. 661 Planimetrische Konstruktionen in geometrischer Ausführung. Progr. Realschule Thann, Leipzig 1904. 662 Z. B. Z. math. nat. U. 40, 1909, S. 494-502; 41, 1910, an mehreren Stellen und in früheren Bänden. 663 Vgl. auch E. HAENTZSCHEL, Arch. Math.

Phys. 10, 1906, Anhang S. 54.

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