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lischen Mittelalters niedergelegt wurde. Aber die kirchliche Hierarchie, welche keine Änderung ihrer durch die Kanonisten theoretisch begründeten Praxis wollte, hat das Gewicht dieser Beschlüsse schon gleich zu paralysieren gewußt. Sie hat ein Jahrhundert später durch die Verwerfung der Jansenisten den Augustinismus überhaupt verurteilt, sie hat zwar damals auch den Probabilismus der Jesuiten. zurückgewiesen, aber schließlich doch den Probabilisten Liguori als Lehrer der Kirche an die Stelle Augustins gesezt (1871). Sie hat endlich, indem sie die vatikanischen Beschlüsse erreichte, in der Unfehlbarkeit des Papstes eine Stellung gewonnen, durch welche ideell alle Dogmen bedroht sind, da die formelle Gleichstellung zeitweiliger politischer Forderungen und Glaubenslehren, wie sie die Anhänger des Papstes bereits vertreten, materiell jedes Dogma entleert. Welches Ende dem in der Unfehlbarkeit gewonnenen neuen Anfang entsprechen wird, das mag die Zukunft lehren. Indem aber der unfehlbare Papst eine neue Grundlage der Kirche bedeutet, hat das sachlich gegenstandslos gewordene alte Dogma im Katholizismus seine Rolle ausgespielt.

Aber Harnack lehrt einen dreifachen Ausgang der Dogmengeschichte. Die beiden andern Ausläufer der in dieser eingetretenen Entwickelung sind der Socinianismus und der Protestantismus. In jenem war ein skotistisch-pelagianisches Element mit einem kritisch-humanistischen verbunden. In ihm sind die kritischen Gedanken der kirchlichen Theologie des 14. und 15. Jahrhunderts zu freier Entfaltung gekommen, und die in ihm zusammengelaufenen Bewegungen stellen diejenige Destruktion des Katholizismus dar, die man auf Grund des Ertrages der Scholastik und der Renaissance zu bewirken vermochte, ohne die Religion zu vertiefen.

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Daß endlich die Reformation auch ein Ausgang des Dogmas sei, da sie prinzipiell die Geltung von Dogmen ausschließt und materiell das alte Dogma noch weit mehr überboten hat als der mittelalterliche Katholizismus, das hat Harnack durch die geniale Darstellung seines leßten Kapitels für jeden erwiesen, der für die Eigentümlichkeit geistigen Lebens und Werdens einen offenen Sinn hat. Die Reformation ist in einem ähnlichen Sinn des Dogmas Ende, in welchem das Evangelium des Gesetzes Ende ist. Sie hat das Glaubensgesetz abgeschüttelt, nicht um zu erklären, daß es Sünde sei, wohl aber in dem Sinne, daß es die Sünde mehrt, wie das Paulus vom mosaischen Gesetz behauptet hat. Sie hat an die Stelle der Forderung der Leistung des Glaubens, welche dem Gesetz entspricht, die Freiheit der Kinder Gottes geseßt, die nicht unter der Last des Glaubenszwanges stehen, sondern in der Freude über ein geschenktes Gut." (III, 586). Die konservative Stellung der Reformation zum alten Dogma gehört nicht dem Prinzip, sondern der Geschichte an. Und gemessen an der Augustana besißt der Protestantismus, resp. das Luthertum keine reine Lehre mehr. Das ist einfach eine Thatsache, die dadurch nicht geändert wird, daß man sie verschleiert. Von den 21 Glaubensartikeln der Augustana sind faktisch die Artiket 1-5, 7-10, 17, 18 kontrovers, selbst in den Kreisen derer, die noch immer im Prinzip" so thun, als habe sich nichts geändert. In concreto werden die einzelnen Abweichungen nicht nur ertragen", sondern gestattet; aber niemand will, um mit Luther zu

reden, der Kaze die Schelle anhängen und das öffentlich proklamieren und danach die Kirchenleitung einrichten, was doch eine Thatsache ist, die niemals mehr geändert werden wird. Wir befinden uns nicht in einem „Notstand" in bezug auf den öffentlichen Ausdruck unsres Glaubens, sondern die Unwahrhaftigkeit, Mutlosigkeit und Trägheit, in der wir dem Wandel der Erkenntnis gegenüberstehen, das ist der „Notstand". Luther hat die Wahrheit erst finden müssen, und als er sie gefunden hatte, verkaufte er alles, was er hatte, um sie für sich und für die Christenheit zu erwerben. Er verkaufte das Herrlichste, was die Zeit besaß, die Einheit der katholischen Kirche: er schlug sie, ohne Rücksicht auf die „Schwachen“ und alle seine himmlisch-irdischen Ideale preisgebend, in Trümmer; aber seine Epigonen sind so matt und ängstlich, daß sie sich selbst nicht einmal eingestehen wollen, was sie neues gelernt haben, und in Gefahr schweben, sich an eine neue Tradition zu verkaufen". (III, 584 f.)

Kiel.

Ritschl.

Litterarische Berichte.

Das Heidentum in der römischen Kirche.
Bilder aus dem religiösen und sittlichen
Leben Süditaliens von Th. Trede. Vierter
und legter Teil. Gotha 1891. Verlag
von Friedrich Andreas Perthes.
Mit dem vorliegenden vierten Bande schließt
ein Werk ab, dessen in der reizvollen Schilde-
rung italienischer Zustände und Gegenden be-
stehenden Vorzug wir auch bei den vorhergehen-
den Bänden stets anerkannt, dessen deutlich
hervortretende Tendenz wir aber von vorn-
herein nicht gebilligt haben; es ist daher, da
wir Anerkennung sowohl wie Einwürfe früher
schon begründet haben, nicht mehr nötig, bei
diesem abschließenden Bande das Gesagte zu
wiederholen. Unleugbar bestehen ja in diesen
süditalischen sittlichen und kirchlichen Verhält-
nissen schreiende, des Christentums und einer
päpstlichen Regierung unwürdige Uebelstände,
die nur deshalb nicht unglaublich erscheinen,
weil des Verfassers Darstellung eine scharfe
Beobachtung und ein vielseitiges Studium über
alle diese Erscheinungen erkennen läßt; aber
gegen diese Darstellung ist doch zweierlei ein
zuwenden. Erstens nämlich ist es doch ein
Widerspruch, wenn der Verfasser dem Staate
und seinen Geseßen nur sehr wenig, der Geist-
lichkeit aber und speziell dem Papste fast alle
Schuld beimißt und doch in verschiedenen Ka-
piteln sagt, daß diese doch zuweilen eifrig
gegen die bestehenden Laster eingeschritten sind.
So z. B. sagt er selbst, daß die Päpste mehr-
fach gegen das Brigantentum, der Kardinal
Mimonda gegen den Bilderschmuck, viele Priester

gegen den Wucher und gegen den Karneval
in der Kirche geeifert haben. Vor allem aber
ist zweitens das der Hauptfehler, daß religiöse
Eigentümlichkeiten in Lehre und Kultus, welche
ursprünglich ganz gut und harmlos gewesen,
dann aber übertrieben, unverständlich und un-
berechtigt geworden sind, in allen Religionen
vorkommen, daß aber deswegen die christlichen
Ausschreitungen und Uebelstände gar nichts
mit dem Heidentum zu thun zu haben oder
aus ihm entstammt zu sein brauchen; man
vergleiche hierzu die Kapitel: Fronleichnams-
fest, Im Findelhaus, Heren und Zauberer, die
Toten u. a. Die Universität zu Kiel, welcher
das nunmehr vollendete Werk gewidmet ist,
wird diese Einseitigkeit des Verfassers wohl
nicht verkennen und den ihm entschieden ge-
bührenden Dank weniger für dessen oft zu scharfe
Polemik gegen die römische Kirche als für die
sonstigen, was Form und Inhalt betrifft, zahl-
reichen Schönheiten und Vorzüge des ganzen
Werkes aussprechen.
C. S.

Der Organismus der Allvernunft und das
Leben der Menschheit in ihm. Von Theo-
dor von Varnbüler. Wien, Prag,
Leipzig 1891. Verlag von Tempsky.
Hauptzweck des Verf. ist, auf dem wissen-
schaftlichen Boden „der absoluten Logik“ eine
Lehre zu geben, welche mit allen Hauptpunkten
der christlichen Ueberlieferung übereinstimmt,
sodaß das Christentum von natur- und vernunft-
widrigen Elementen frei bleibt. Wie die Atome
durch ihre gegenseitigen Kraftwirkungen die

materielle Welt bilden, so wird die Allvernunft fonstruiert aus dem Zusammensein geistiger Wesenheiten, durch deren lebendiges Bewußtsein die materielle Welt zur konkret logischen realen Wahrheit wird." Die Vernunft teilt fich in Verstand, Sinnlichkeit und Gemüt (129). Als Kanon der Wissenschaften ergiebt sich 1. die positive, d. h. Wissenschaft vom Objekt, 2. die Philosophie, W. vom notwendigen Begriff, 3. die Religion, W. vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch (223 f.). Die Thatsache der Erlösung sei vernunftmäßig zu erweisen (355): „wollten wir Jesum Christum nicht als solchen (Erlöser) erkennen, so müßten wir doch seine Erscheinung mit Gewißheit erwarten." Kirche ist die Gemeinschaft aller in derselben religiösen Erkenntnis lebenden Menschen (432, 597, 678). Verf. definiert nach seinen Foringesehen Pflanze, Tier und Mensch (512 f.). Das ideale Ziel menschlichen Strebens bestehe in der Verwirk lichung der Herrschaft des geistigen Menschen im Zusammenleben der Menschen auf Erden (591). Der Anspruch auf das Recht, eine eigene (logische) Persönlichkeit zu besitzen und hiermit ein Glied in der Kirche" der Menschheit zu sein, sei unvereinbar mit jeder egoistischen Verwendung des Besißes (620); niemand habe das Recht zu sagen: das ist mein, ich kann damit machen, was ich will (637). Trogdem lesen wir die dem allgemeinen Bewußtsein mehr geläufige und wohl auch richtige Behauptung: Der Reichtum ist notwendig sowohl zur Organisierung des Marktes als auch zur Verwirklichung schöner Lebenszustände und insbesondere zur Erzeugung von Vorbildern der Güter, nach denen wir streven sollen, um die ganze Menschheit damit zu beglücken und zu veredeln. Ohne solche Vorbilder könnte sich weder die Wissenschaft entwickeln noch der Geist der Wahrheit sich gestalten. Aber Spekulation und Reichtum dürften sich nie in ver legender, menschenfeindlicher Weise geltend machen (669). Die acht Kapitel tragen die Ueberschrift: Einleitung. Die Konstruktion der Bernunft. Elementare Konstruktionen. Antinomien. Die geistige Entwickelung der Vernunft. Die organische Entwickelung der Vermunstwesen. Das Geistesleben des Menschen. Gesetzgebung.

B.

Zehn Jahre in Aequatoria und die Rückfehr mit Emin Pascha. Von Major Gaetana Casati, nach dem italienischen Originalmanuskript ins Deutsche übersetzt von Professor Dr. Karl von Reinhardstöttner, einzige autorisierte deutsche Ausgabe mit 150 Abbildungen und 4 Karten. Zwei Bände. Bamberg 1891. C. C. Buchner'sche Verlagsbuchhandlung (Gebrüder Buchner, Königlich Bayrische Hofbuchhändler).

Der Verfaffer, italienischer Jägeroffizier, später Mitarbeiter an der geographischen Zeitschrift l'Esploratore, hat sich mit dem 41. Lebens

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jahre in das äquatorische Afrika begeben und zehn Jahre dort verweilt. Nachdem er im Anschlusse an die Gessi'sche Expediton zunächst die Völker des Uellethales besucht hatte, trat er darauf in Emin's Dienste und wirkte lange Zeit als dessen Vertreter in Unjoro, bis er von König Tschua gefangen genommen, seiner Habseligkeiten beraubt und verjagt wurde. In der höchsten Not wurde er am 15. Januar 1888 von dem auf der Suche nach Stanley befindlichen Gouverneur Emin an den Ufern des Albertsees wieder aufgenommen. In der Folge wurde er Augenzeuge von Emiv's Verhandlungen mit Stanley, dem Aufstande und dem gemeinsamen Rückzuge. Da Emin bis jetzt noch keine zusammenfassende Darstellung seiner Thaten und Leiden gegeben hat, so war das Publikum in den weitesten Kreisen mit Recht auf das Erscheinen von Cafati's Buch gespannt, da man hier eine vollständige Aufklärung über die für jeden Deutschen so interessanten Vorgänge zwischen Emin und Stanley zu finden hoffte, eine Hoffnung, die durch die Ankündigungen der Verlagshandlung noch wesentlich verstärkt worden ist. Und es sind auch eine große Reihe von neuen und glaubwürdigen Thatsachen in diesem Buche vorgetragen, aber die Darstellung ist weder vollständig noch glücklich; die Anordnung ist unklar, die Sprache ist dunkel, oft delphisch; uns stören die beständigen schweren Vorwürfe, die dem Pascha und seinen Maßregeln bei jeder Gelegenheit gemacht werden, ohne daß eine sachgemäße Begründung erfolgt. (Auch während des gemeinsamen Aufenthalts in Afrika scheint der Versasser seinem Führer öfter widersprochen zu haben, als es sich für einen Militär geziemen möchte, dem doch das Verständnis für die notwendige Einheitlichkeit der Leitung nicht fehlen darf.) Die Darstellung der durchreisten Gegenden und insbesondere die Völkerschilderung bringt uns viele wichtige, unbekannte Thatsachen, der Vortrag trägt den Stempel der Wahrheit und macht das Buch als Beitrag zur Kunde Afrikas hochbeachtenswert. Die ethnographischen Schilderungen sind durch eine große Anzahl von Abbildungen unterstützt, welche aber ohne ersichtlichen Plan zwischen die Kapitel eingereiht und in der Wiedergabe sehr schlecht, fast kaum erkennbar ausgefallen sind. Die Uebersegung wird ihrer Aufgabe nicht gerecht; neben vielen Schiefheiten des Ausdrucks, falschen Anwendungen von Kunstausdrücken und Fremdwörtern finden sich auch Stellen, in denen der Sinn des Originals unmöglich getroffen sein kann. Die Auszüge aus Gessi's Tagebuch, Bd. 1, S. 125 ff., sind zum Teil unverständlich. Das Vokabular am Ende des I. Bandes scheint_im_Original alphabetisch angeordnet zu sein. Im Deutschen ist dieselbe Reihenfolge beibehalten, die nunmehr den Eindruck einer willkürlichen macht. Das Namenregister ist ausführlich und reichhaltig, Satz und Druck abgesehen von den Bildern

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sehr schön, der Einband ist luxuriös, aber etwas aufdringlich). K. F. Das Jugendspiel. Vortrag gehalten in der gemeinnüßigen Gesellschaft zu Leipzig am 17. November 1890 von H. Raydt, 2. Mit Abbildungen. Hannover 1881. Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior). Daß ein intensives Betreiben der Jugendspiele, wie es in England allgemein geschieht. für die körperliche Ausbildung und Gesundheit und dadurch auch in vielen anderen Beziehungen vorteilhaft ist, wird niemand bezweifeln, und nach dieser Seite hin dürften die in dem Vortrage enthaltenen Ausführungen, Vorschläge und Wünsche kaum Widerspruch erfahren. Wie aber steht es mit der Möglichkeit der Verwirklichung? Die in Süddeutschland, in Görlig (und zwar hier durchaus nicht zuerst) und anderwärts angestellten Versuche werden als sehr erfolgreich gerühmt, aber dieser Betrieb der Jugendspiele reicht, was die Ausdehnung und das Interesse betrifft, bei weitem nicht an die englische Art und Weise, und es fragt sich, ob die Einführung dieser letteren, selbst wenn sie noch so sehr gewünscht würde, bei uns sich wird ermöglichen lassen. Die wissenschaftlichen Anforderungen unsrer Schulen gestatten kaum eine noch größere Ausdehnung der Jugendspiele, es müßten also jene bedeutend herabgesezt werden, und es ist doch zweifelhaft, ob dies geschehen wird und darf. Den berechtigten Einwurf ferner, daß bisher auch ohne diesen großartigen Spielbetrieb die deutsche Jugend kräftig und zum Ertragen der allergrößten Strapazen fähig geworden ist, hat der Ver faffer zwar selbst angeführt und zurückgewiesen, aber nicht widerlegt; sehr erfahrene Militärs sind nämlich hierin ganz andrer Ansicht. Vor allem aber erscheint es doch zweifelhaft, ob dieses Spielen auch noch der reiseren studentischen Jugend oder gar dem Manne zu empfeh= len ist; wir meinen, der deutsche Mann ist erstens von Natur viel zu ernst, als daß er sich noch an Knabenspielen erfreuen, und das deutsche Publikum ist nicht schaulustig und müßig genug, als daß es, wie es in England, z. B. in Eton, geschieht, dieselben mit Interesse, ja mit Aufregung verfolgen könnte. An Kinderspielen sich belustigende (d. h. selbstspielende) Jünglinge und Männer sind für uns Deutsche geradezu ein widerwärtiger Anblick, und wir sollen dieses Gefühl nicht als ein prüdes verwerfen und auch den Engländern hierin nicht nachahmen; die Volkscharaktere sind eben verschieden. Das Turnen und Spazierengehen, die Freiübungen und Dauermärsche sind etwas Andres als Ballspielen und Baarlaufen. Es kommt wohl auch noch dazu, daß der im allgemeinen wohlhabende (und, beiläufig gesagt, uns Deutschen doch oft recht komisch vorkommende) Engländer mehr Zeit und Geld auf solche Vergnügungen verwenden kann als wir. Wer jedoch dies als eine philiströse An

sicht verurteilen und die englischen Jugendspiele bei uns für jung und alt eingeführt wissen will, der wird diesen im Druck vorliegenden Vortrag, dessen beigefügte Abbildungen und Erläuterungen übriges höchst anschaulich sind, nicht ohne Interesse lesen. C. S.

Ignaz von Döllinger. Erinnerungen von Luise von Köbell. München 1891. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung. Als langjährige Freundin des berühmten Kirchenhistorikers konnte L. v. Kobell, welche auch den Lesern dieser Zeitschrift durch mehrere geistvolle Essays bekannt ist, sehr interessante Erinnerungen und Gespräche Döllinger's mitteilen. Viele Episoden in dem vorliegenden Buche haben einen hohen historischen Wert und führen Döllinger's Denken und Fühlen dem Leser so nahe, daß er ihn durch dasselbe ganz verstehen wird. Wie tief Döllinger die Unfehlbarkeitslehre zu Herzen ging, charakteristeren nachstehende Worte. Döllinger sagte: „Ich habe nur eine schlaflose Nacht in meinem Leben gehabt, es war diejenige, in welcher ich mein Gewissen wegen des Ünfehlbarkeitsdogmas erforschte, hin und her sann und zu der Weberzeugung gelangte, ich dürfe und könne nicht zu der Infallibilisten-Partei übergehen“. Für unerhört hielt Döllinger die völlige Aus. schließung des ganzen Laien-Elements und aller Regierungen aus dem Konzil Pius IX., umso mehr als die päpstliche Kurie die Bischöfe nötigen wollte, eine Reihe von Dekreten über die Verhältnisse von Kirche und Staat anzunehmen, ohne die Beteiligten (Vertreter der Regierungen) zu hören. — Wir könnten noch sehr viele hochinteressante Stellen aus dem Buche anführen, wenn uns dies der Raum gestattete. Wir möchten aber alle Freunde und Verehrer Döllinger's auf diese vortrefflichen und geistvollen Erinnerungen an Döllinger hinweisen.

R.

Das Zeitalter der deutschen Erhebung 1807 bis 1815 von Rudolf Goette. Gotha 1891. Verlag von Friedr. Andreas Perthes.

Wäre hier der Ort, Einzelfragen aus der Geschichte der behandelten Epoche zu erörtern, dann hätten wir manchen Strauß mit dem Verfasser auszukämpfen, und wir glauben sicher, selbst in Differenzpunkten, die nicht von der Parteistellung und allgemeinen Auffassung abhängig sind, ihm Berichtigung und Zugeständnis abringen zu können. So verlockend auch immer eine solche Diskussion sein möchte, zumal wir unter dem Eindruck ständen, einen ebenso durchgebildeten als maßvollen Kämpfer uns gegenüber zu sehen, so sehr muß doch an dieser Stelle davon abgesehen werden, und wir müssen uns begnügen, der befriedigten Empfindung Ausdruck zu geben, welche das dargestellte Gesamtbild uns zu erwecken wußte. Es mag wohl als ein Wagnis angesehen werden, daß

der Autor seine große gestaltende Kraft an einem Gegenstande versuchte, der in mannig facher und zum Teil mustergültiger Form in der neuern Geschichtslitteratur bereits vorliegt, ohne sich auf eine Erweiterung und Bereicherung des zu Grunde liegenden Materials stüßen zu können, ja sogar ohne den Dingen gegenüber einen neuen, hervorragend originellen Standpunkt einzunehmen. Wollte man ihm einen solchen zuerkennen, so müßte er darin gefunden werden, daß der Verfasser, beherrscht von der zur Zeit überwiegenden Anschauung, die Anregungen und Entscheidungen der politischen Umwandlung weniger in den populären Strömungen und in den von unten heraufkommenden Impulsen als in dem Einfluß maßgebender Persönlichkeiten zu suchen geneigt ist. Allein gerade je mehr hier das Augenmerk ausgesprochenermaßen auf die innere Erneuerung" der deutschen Staaten gerichtet ist, desto mehr durfte bezweifelt werden, ob sich ein solcher Gesichtspunkt ausgiebig genug und zureichend erweisen wird. Namentlich aber dürfte eine derartige Anschauung unzulänglich werden, wenn, wie hier gewollt wird, „die lebenskräf tigen Umformungen und stattlichen (staatlichen)? Neubauten“ eine Deutung als Elemente der deutschen Einheitsbewegung erhalten sollen. Wie gerade unter diejeni Sehwinkel neuerdings erst der populäre Rühmesglanz des Freiherrn v. Stein teilweise Einbuße erfahren mußte, das steht noch in frischer Erinnerung. So lange der Verfasser innerhalb der preußischen Verhältnisse sich bewegt, und das geschieht hier in dem ganzen Bande, denn auch der verhältnismäßig kurze Streifzug in die österreichische Erhebung kann doch nur als eine Ergänzung jener angesehen werden so lange es sich nur um Preußen handelt, wird bei der natürlichen Uebereinstimmung der preußischen mit den deutschen Interessen sich das Mißverhältnis verbergen. Aber wie dieselben Grundgedanken den „Neubauten“ der übrigen deutschen Staaten angepaßt werden sollen, das reizt die Neugier und spannt das Interesse für die zugesagten „ipätern Bände“ um so mehr, als man von dem politischen Verständnis und der klaren Durchdringung des Gegenstandes aus diesem ersten Bande ein sehr günstiges Vorurteil empfängt. Nur eine sehr umfassende Beherrschung des Stoffes und die Ordnung und Auswahl desselben nach Erwägung innerer Zusammenhänge hat es ermöglicht, in einem verhältnismäßig knappen Rahmen ein so figurenreiches Gemälde zu fassen, das durch den edlen Bortrag und eine leidenschaftslose Sprache sich nur um so sicherer einen nachhaltigen Eindruck verbürgt. C. Volksschriften von Johanna Spyri. Zweiter Band. Mit 4 Bildern. Verlag von Friedrich Andreas Perthes.

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Zwei fleine, anspruchslose Erzählungen enthält dieser zweite Band der Volksschriften

von Johanna Spyri, nicht durch die Darstellung gewaltiger Charaktere und_psychologischer Gegensäge und Konflikte, nicht durch die Schilderung spannender oder gar aufregender Situationen und Ereignisse, wohl aber durch eine tiefe Innigkeit des Gemüts, durch die Vorführung einfacher und doch wahrhaft gediegener Menschen, durch die Aufstellung und Durchführung guter Gedanken und schöner Lehren ausgezeichnet. Wie selten begnügt sich heute ein schriftstellerischer Geist mit diesem bescheidenen und doch so lohnenden und bildenden Gebiete einer nicht schwärmerischen und ermüdenden, sondern wirklich anregenden und gerade durch ihre Schmucklosigkeit fesselnden Idylle, denn diesen Namen verdienen die beiden uns hier gebotenen kleinen Geschichten! Sie sind nach Inhalt und Form nicht nur dankenswerte Gaben für Kinder, welche viel Gutes aus ihnen schöpfen können, sondern auch dem reiferen Alter werden sie manches Schöne bieten und dem Leser, welcher seinen angestrengten Geist einmal vom Studium des historischen oder des Tendenzromans ausruhen lassen will und sich von dem fast widerwärtig gewordenen naturalistischen Genre abgewendet hat, den Beweis dafür liefern, daß auch im einfach Wahren und Schönen noch ein lebendiger Reiz und eine erhebende_Poesie__ruht. Möge die übrigens schon in weiteren Kreisen bekannte Schriftstellerin durch die gebührende Würdigung und durch die dankbare Aufnahme ihrer Erzählungen zu weiteren, ebenso vortreff. lichen Gaben sich angeregt fühlen! C. S.

Graf Julius Szapáry an der Spize Ungarns.

Ein Lebens- und Charakterbild. Leipzig, 1891. Verlag von Duncker und Humblot.

Wenn auch des Verfassers Behauptung, daß die „lebende Mitwelt" die sichere, fühlbare Gewähr der eigenen Augen habe und „diese sich so recht erweist als die zuverlässigere Methode, welche zum Verständnis der lebenden hervorragenden Gestalten führt", nicht immer ohne weiteres wird für zutreffend erachtet werden können, so ist doch die Zeichnung, die er uns mit Graf Julius Szapáry's Lebensund Charakterbild vorlegt, eine vorurteilsfreie und die ausgezeichneten Eigenschaften des gegenwärtigen Ministerpräsidenten ins rechte Licht sehende. Der Nachweis wird erbracht, daß Ungarns ungewöhnliche Fortschritte auf den verschiedensten Gebieten zum großen Teil der Energie, der umfassenden Kenntnis und dem bewährten Patriotismus des vielerfahrenen Staatsmannes zu verdanken ist, so daß die Erwartung Ungarns, das Kabinet Szapáry verde die ihm zugedachte Mission, Ungarn zu einem modernen, einheitlich be. festigten Rechtsstaate zu machen, mit dem unübertroffenen Eifer und nachdrucksvollstem Fleiße zu Ende zu führen, mit dem dieselbe

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