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textkritische Vermutungen. So muss ich, allerdings nicht allein wegen des porro, sondern auch aus anderen von Gneisse entwickelten Gründen zugestehen, dass VI 398 f. besser unmittelbar vor 404 steht, wie schon Bockemüller und Kannegiesser wollten. Der ganze Abschnitt wird von Gneisse in höchst belehrender Weisse behandelt. Auch der Vorschlag 421 f. hinter 405 zu stellen, ist beachtungswert, wenn es auch in solchen Dingen oft zweifelhaft bleibt, ob man die ursprüngliche Anordnung herstellt oder verbessert. Ferner gelingt Gneisse der Beweis, dass I 565 -576 nicht vor 577 stehen kann, dass aber auch nicht, wie Stuerenburg wollte, 577-583 hinter 584-598 stehen kann, sondern vielmehr auf 551-564 folgen muss; auch macht er wahrscheinlich, dass 584 -598 an ihrer Stelle bleiben müssen. Bedenklicher ist es mir, seiner Auffassung von III 323-349 und 350-369 beizustimmen. Lachmann soll 350 - 395 mit Unrecht eingeklammert haben, weil 323-349 (A) und 350 - 369 (B) Teile einer und derselben Beweisführung seien. In A zeige der Dichter, dass weder Leib noch Seele für sich allein Leben haben könne, in B, dass sie wenigstens nicht genügten, die Aeusserungen des Lebens, wie sie an unserem Wesen hervortreten, zu erzeugen. Aber 350-358, 359-369 weisen formell nicht auf den vorangehenden Abschnitt hin, sondern schliessen sich als polemische Partien mit der folgenden 370 - 395 zusammen. Sehr schön erscheint mir die Erklärung von IV 777-817. Einen Ausfall vor IV (299 Lachm.) 322 anzunehmen, eben nur wegen porro, halte ich nicht für notwendig.

XI. Eins der wichtigsten Kapitel der Frage des Lucrezischen Stiles behandelt Emil Kraetsch in der Dissertation 'De abundanti dicendi genere Lucretiano'. Diese umfassende Arbeit hebt sich durch Fleiss, Gründlichkeit, Scharfsinn und Weite des Ueberblickes beträchtlich über das Mittelmass empor.

Die Einleitung bezeichnet das volle Strömen ja Ueberfliessen des Ausdrucks als für die Sprache des Lucrez charakteristisch. Der überreiche Stoff ist, wie es scheint, vollständig zusammengebracht, Parallelstellen aus andern Schriftstellern sind mit Umsicht herbeigezogen, die leitenden Gesichtspunkte sind in klarer und bündiger Sprache entwickelt. Das Princip der Disposition erscheint mir sehr anfechtbar. Doch das muss hier unerörtert bleiben.

Kraetsch nimmt an, dass bald ein überwiegend formales Interesse die Häufung oder Fülle des Ausdrucks bewirke, indem diese entweder der 'venustas orationis', S. 7, oder dem numerus versuum' diene, S. 14, bald ein logisch-rhetorisches Bedürfnis es handelt sich dann um sententiae amplificatio', die ad orationis utilitatem pertinet' S. 11. Es ist ihm vollkommen klar, dass oft, ja meistens mehrere dieser Faktoren zusammenwirken, S. 7 und 14.

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Ich gebe jetzt den wesentlichsten Inhalt der Untersuchung in

knapper und dürftiger Uebersicht und lasse dann erst die kritischen Bemerkungen folgen, weil ich nur so Wiederholungen vermeiden kann.

Pars prior. Kap. I handelt von der Abundanz im Gebrauche des Verbums. Der Verfasser beginnt mit der Verbindung allitterirender Synonyma, wie placet et pollere videtur V 1410f. adiutamur atque alimur I 812f. vgl. I 859 V 322 u. s. w. Hierher gehört als eine besondere Art die Verbindung mit derselben Präposition komponirter Verba, wie officere atque obstare, adfingere et addere etc., ein sehr reichhaltiger Abschnitt. Es folgt die Abundanz im Homoioteleuton, S. 6f. Weiterhin (S. 11) werden die Beispiele der Verknüpfung zweier Synonyma mit der Wiederholung desselben Adjektivs oder Adverbiums zusammengestellt, wie II 1078 unica quae gignatur et unica solaque crescat, III 286 IV 621 etc. Eine andere poetische Abundanz ist es, wenn sich an ein einfaches Verbum eine Phrase schliesst, so I 170 inde enascitur atque oras in luminis exit.

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Sehr interessant sind dann die Beobachtungen über die Verdoppelung des Verbums, insoferne sie mit dem Rhythmus zusammenhängt, S. 14 ff. Die Synonyma bilden entweder zusammen den Versschluss, wie III 961, oder sie verteilen sich in beide Vershälften, wie IV 916, oder (S. 18) das eine steht am Ende des einen, das audere am Anfange des anderen Verses, wie I 375 f. IV 320f. VI 211 f. Die zweite Hälfte des Kapitels, S. 20-39, handelt von den Verbindungen synonymer Substantiva, Adjectiva und Adverbia. Der Massstab, nach welchem bestimmt wird, was abundire, was pleonastisch oder gar tautologisch sei, ist natürlich wesentlich derselbe, wie bei dem Abschnitt über die Abundanz des Verbums. Kap. II, S. 40-51, bespricht vor allem die asyndetische Abundanz. Hier werden unter anderm (S. 44f.) jene merkwürdigen Verbindungen zweier Adverbialausdrücke beleuchtet, wo entweder der zweite eine genauere Bestimmung giebt als der erste oder etwas implicite im ersten liegendes hervorhebt u. s. w. Vgl. III 38 funditus . . . ab imo IV 266 penitus. . . in alto VI 721 ex aestifera parti ... ab austro u. s. w. reiht sich, S. 45 ff., die erklärende Hinzufügung eines positiven Ausdrucks zu einem negativen, wie II 193 sponte sua sine vi subeunte (?) ▼ 838 muta sine ore etc. Es folgt, S. 47 f., die Verbindung positiver Ablative der Eigenschaft mit entsprechenden Adjectiven, z. B. II 452 fluvido quae corpore liquida constant V 449, 1072 u. s. w. Dann (S. 48 f.) werden Häufungen besprochen, wie etiam quoque oder quoque etiam, item quoque, quoque item etc. Der letzte Abschnitt, welcher Abundanzen wie foris haec extra moenia mundi II 1045, vgl. III 27, 879 f., erörtert, wäre wohl besser an das S. 44 Besprochene angeschlossen worden.

Daran

Den Inhalt des Kap. III S. 52-61 giebt Kraetsch folgendermassen an: 'Hic ubertas ita oritur, ut a substantivo genetivus pendeat aut adiectivum ei adiciatur, deinde ut verbum nominis, adiectivi, adverbii, participii additamento augeatur, cum ex natura atque significatione et sub

stantivi et verbi plane supervacaneum (sic!) videatur'. Neben Beispielen, über welche später zu sprechen sein wird, begegnen uns solche wie fraus frustraminis IV 814, conubia Veneris III 774, genitalis per Veneris res II 437, Babylonica Chaldaeum doctrina V 725, ferner anxius angor III 991 u. ä., wo man die mindestens logische Wertlosigkeit des Zusatzes zugestehen muss.

Kap. IV. S. 62-72 behandelt alle Stellen, 'in quibus verbo cuidam aut nomen aut adiectivum aut adverbium aut denique gerundium praeter necessitatem apposita invenimus'. Beispiele mögen folgende sein: I 495 manu retinentes pocula rite (s. u.), V 851 mutua qui mutent inter se gaudia und V 894 nec moribus unis conveniunt. II 200 foras emergunt exililiantque V 847 ut propagando possint procudere saecla.

Kap. V endlich, S. 72 89, beschäftigt sich mit der Abundanz des Participiums. Es abundirt so das Part. praesentis, z. B. II 318 quo quamque vocantes invitant herbae; wohl noch häufiger, wenigstens nach Kraetsch Meinung, das Part. perf. von Passiven und Deponentien S. 75 ff. S. 79, so, wirklich oder scheinbar, in omnibus ornatum ... excellere rebus I 27 sopita quiescant I 30. (Visitque exortum lumina solis I 5.) Eine ganze Anzahl dieser Fälle wird durch Annahme einer Prolepse erklärt S. 78, dafür Beispiele wie recreata valescant I 942 igni flammata cremantur II 673 u. s. W.

...

Zu den Fällen, wo das Participium abundire, rechnet Kraetsch auch das participium repetitum', das heisst dasjenige Participium eines vorangegangenen verbi finiti, welches den Begriff desselben weiterleitend wieder aufnimmt, bezw. das demselben Zwecke dienende Participium eines Synonymums, wie II 566 et res progigni et genitas procrescere posse und IV 1119f. teriturque ... vestis et Veneris sudorem exercita potat. Es wird dann der, nur zum Teil mit Recht als pleonastisch bezeichnete abundirende Gebrauch von (co- und ex-) ortus, repertus und victus besprochen und eine Anzahl von Erscheinungen ähnlicher Art.

Kraetsch spricht es in der Einleitung ganz richtig aus, wir dürf ten nicht glauben, in quibus nos nunc offendimus, etiam veteribus displicuisse, das heisst doch wobl: die Alten haben vielfach in dem scheinbar überflüssig Hinzugefügten eine genügend wertvolle Ergänzung gefunden, um nichts tautologisches oder pleonastisches darin zu sehen. Leider hat der Verfasser diesen Gedanken sich nicht überall gegenwärtig gehalten er bezeichnet vieles als abundirend, oder gar als tautologisch oder pleonastisch, was bei richtiger Auffassung sich ganz anders darstellt. Dies soll hier in Kürze für eine ganze Anzahl von Fällen gezeigt werden.

Zu Kap. I S. 11: Sursum ferri sursumque meare II 186 bezeichnet zwei verschieden gedachte Arten des Aufsteigens und II 106 drückt dissiliunt und recursant sogar zwei einander entgegengesetzte Bewegun

gen aus. Die mit einer Phrase verbundenen Verba ferner bezeichnen meistens ein Thun oder Geschehen, durch welches das in der Phrase Ausgedrückte bewirkt wird oder in dem es implicite schon liegt. So wird I 372f. gesagt, das Wasser solle den Fischen weichen und ihnen so (dadurch') flüssige Bahnen öffnen können. III 755 Die Teile werden versetzt und ändern also ihre Reihenfolge': Ebenso I 985 f. wo finitumque foret bedeutet: und also endlich wäre. So natürlich oft auch bei einfachen Verben: I 375 f. posse moveri et mutare locum und dadurch'. Verbindungen dagegen, wie admirantur amantque I 641 hätte Kraetsch garnicht erwähnen sollen, da diese Verba ja nicht einmal Synonyma sind. Ganz ähnlich, wie die angebliche Abundanz bei coordinirten Verben, ist oft auch die vermeintlich pleonastische Verbindung von Verbum finit. und Participium, Kap. V, zu erklären. Oft bezeichnet das Part. perf. eine andere vorangegangene Handlung (einen ... Vorgang) oder doch ein vorangegangenes Stadium derselben Handlung (desselben Vorgangs), so II 549 congressa coibunt, werden, nachdem sie einander nahe gekommen, einen coetus materiae bilden. Damit drückt es zugleich aus, wie jene Handlung (Vorgang, Zustand) zu Stande gekommen ist und welcher Art er ist. Auch das als supervacaneum' angesehene Part. praes. giebt meist eine wesentliche Ergänzung, oder doch eine nicht absolut unwesentliche; so bezeichnet VI 141 das evolvens, wie der Wind das ab rudicibus imis haurire bewerkstelligt, I 438 nulla de parte quod ullam rem prohibere queat per se transire meantem bedeutet: was kein Ding hindern kann auf seinem Gange es zu passieren und VI 516 cera tabescens multa liquefit versinnlicht den Vorgang, wie das Wachs niedertropft, indem es dabei (und dadurch) hinschwindet.

Ich kehre zu Kap. I zurück, um an einigen Beispielen zu zeigen, dass Kraetsch manchmal übereilt eine leere Abundanz annimmt, wo an eine solche nicht zu denken ist. I 442 soll gerique neben esse stehen, 'ut numerum expleret'. Dinge können (irgendwo) sein und Naturprozesse können stattfinden, ist ja etwas ganz verschiedenes. Ebenso ist es mit esse et crescere V 139; etwas kann irgendwo vorhanden sein, ohne zu wachsen. Auch Ausdrücke wie grandescere alique, procrescere alique sind durchaus nicht tautologisch. An dem Wachstum erkennt man, dass ein Zufluss von Nahrung stattfindet Ferner ist disperit ac sese mandendo conficit ipsa IV 637 keine Abundanz. Im Deutschen drücken wir uns hypotaktisch aus: sie geht zu Grunde, indem sie .... Zur zweiten Hälfte von Kap. I: Dass mens animusque (und mens animi) bei Lucrez, Vergil und Horaz 'mera tautologia' sei, ist doch schon an und für sich unglaublich. Auch coetu concilioque II 920 foliis ac frondibus V 970 u. ä. ist wohl eine Abundanz, da der Unterschied zwischen coetus und concilium, folia (einzelne Blätter, abgerissene) und frons (Laub, also Blätter, die noch an den Stengeln sitzen und eine Masse bilden) nicht eben wesentlich erscheint, aber keine Tautologie. Auch rupes deruptoque saza

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VI 539 ist mindestens für die Phantasie keine solche, und darauf kommt es doch an. Ferner ist vis und iniuria, V 1150, etwas charakteristisch verschiedenes, vgl. Thucyd. I 77, wo doxoúpevor und Beatóuevo einen Gegensatz bildet. Endlich ist es ein starkes Missverständnis, wenn Kraetsch naturae species (unmittelbare sinnliche Anschauung der Natur) ratioque (und ihre philosophische Betrachtung) hierherzieht. Hier wie im Folgenden kann ich natürlich nur einen Teil der Stellen erwähnen, wo ich Kraetsch im Unrecht glaube. Zu Kap. II. Wegen concursare coire III 395, vgl. das oben über II 549 Gesagte. Zu den pleonastischen Adverbienhäufungen ist tamen interea V 83 und VI 59 mit Unrecht gerechnet, da interea auch hier Temporalbedeutung hat. Zu Kap. III. Das plane supervacaneum' dürfte nur ausnahmsweise richtig sein. II 626 ist iter omne viarum ihr ganzer Weg durch die verschiedenen Gassen, und cursus viam V 712 u. ä. ist nicht minder leicht zu erklären, von aeris aurae nicht zu sprechen, wo nicht einmal der Schein einer Ueberfülle vorliegt. Dagegen ist bei formai figura IV 67 ein solcher unzweifelhaft vorhanden, denn es lässt sich nicht leugnen, dass diese Wörter sich in vielen Fällen vertauschen lassen. Dass aber die Römer im Allgemeinen einen genügenden Unterschied zwischen beiden empfunden haben, beweist ihre Verbindung bei Cicero siehe die Stellen bei Kraetsch S. 53 und vergleiche die ebendaselbst citirte Stelle aus Doederlein's Synon. III 25 ff. Fraus frustraminis IV 814, conubia Veneris III 774 u. ä. (s. o.) dürften allerdings auch schon den Zeitgenossen befremdlich gewesen sein, während anxius angor, violenta vis und dergleichen sie als altertümlich anmutete, siehe Kraetsch S. 50. Rivus aquai, vomer aratri, fulmen caeli u. ä. ist schöne Fülle, voll sinnlichen Lebens, keine Ueberfülle. Die Erwähnung von vacuum inane ist höchst befremdlich, siehe Hoerschelmann, Observ. Lucr. alterae, S. 3 ff. Zu Kap. IV. Buch IV 464 ist sensibus ein höchst notwendiger Zusatz zu visa. IV 616f. ist manu spongiam aquai siccare ein Ausdruck von schöner Anschaulichkeit. Auch Verbindungen wie deorsum deducere, sursum succedere, rursum resolvere sind nicht pleonastisch; denn ohne den Zusatz hätten die Verba nicht die ganz bestimmte Bedeutung, welche sie mit ihm haben. Zu Kap. V. Es ist nur noch einiges zur Würdigung des Abschnittes von der Prolepse S. 78 ff. nachzutragen. Eine solche liegt III 30 vor, wo Kraetsch sie verkennt, sie liegt, ausser V 1198 und vielleicht III 336, wahrscheinlich an keiner Stelle vor, wo Kraetsch sie annimmt*). Etwas kann den Augen entschwunden sein, ohne vernichtet zu sein. (... erepta periret I 218), die volle Erneuerung der Kraft folgt erst auf die Genesung (I 942 . . . recreata valescat), etwas verbrennt erst, nachdem es in Flammen geraten ist, und nicht umgekehrt (II 673 quaecunque igni flammata cremantur), die Masse der einen Gegenstand bildenden Atome muss erst vermehrt werden, ehe ein Wachstum sichtbar wird (crescere adaucta s.o.), die moenia mundi müssten

*) Wegen I 724 s. die letzte Anm.

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