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SERAPEUM.

Zeitschrift

für

Bibliothek wissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur.

Im Vereine mit Bibliothekaren und Litteraturfreunden

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Es giebt kaum einen Gegenstand, der die Aufmerksamkeit und das Interesse der Bibliotheksmänner mehr in Anspruch nehmen kann als Dasjenige, was die Palimpsesten und deren Behandlung betrifft, und doch ist verhältnissmässig, seit A. W. von Schröter in seiner dem XXIV. und XXV. Bande des Hermes 1) eingerückten und zwar sehr gelungenen „Uebersicht der vorzüglichsten seit dem Jahre 1813 besonders durch Codices rescripti neuentdeckten Stücke der griechischen und römischen Litteratur" diesen Gegenstand ausführlicher behandelte, weniger für diese Sache geschehen!

Die Worte Schröters: „Um so mehr muss man Herrn Mai's Verdienst anerkennen: denn er ist es ge

1) Hermes oder kritisches Jahrbuch der Litteratur No. XXIV der ganzen Folge. Leipzig bei Brockhaus 1824. S. 318-384. und Band XXV. Leipzig, 1826. Seite 271-388.

XVII. Jahrgang.

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wesen, der in unserer Zeit die Aufmerksamkeit der Gelehrten wie kein früherer auf diese Handschriften geführt hat; die rastlosen Nachforschungen, welche er seit dem Jahre 1813 in den vorzüglichsten Bibliotheken Italiens anstellte, waren vorzüglich auf Palimpsesten gerichtet, und was er aus ihnen entzifferte, hat alle Erwartungen übertroffen. Er ist der Erste, welcher die Palimpsesten so benutzt hat, als sie es verdienen! Ihm folgten Niebuhr, Peyron und Andere" scheinen weniger Eindruck als zu erwarten, auf die Befähigten gemacht, seine Aufforderung: „Jetzt kommt es aber darauf an, dass man auf dem so herrlich eröffneten Weg nicht stille stehe! Das meiste ist gewiss noch zu thun!" wenig gewirkt zu haben, indem von da ab fast Niemand mehr diesen Weg betrat!

Am wenigsten aber haben von jeher auf diesem Wege die teutschen Bibliotheken geboten, obschon auch hierin vor allen ein Teutscher vorausgegangen war. Dieser war der Wolfenbüttler Archidiacon Franz Anton Knittel, der in seinem schönen Werke:

Ulphilae versionem Gothicam nonnullorum capitum epistolae Pauli ad Romanos venerandum antiquitatis monumentum pro amisso omnino . . . per multa saecula.. habitum e litura codicis cujusdam manuscripti rescripti... Guelpherbytan. Biblioth..una cum variis variae litteraturae Monimentis huc usque ineditis eruit etc. Fr. A. Knittel. Guelpherbyti (1761.)

für solche Untersuchungen, obschon es ihm eigentlich mehr um den Text des Neuen Testaments zu thun war, eigentlich die Bahn brach, wie er denn auch S. 507-532 eine „Descriptio critica manuscriptorum rescriptorum, quae in Augusta apud Guelpherbytanos Bibliotheca adservantur" beifügte, überhaupt sehr merkwürdige Principien aufstellend.

Von da an war es mit Palimpsesten Teutscher Bibliotheken stille, bis im Jahre 1805 der Oberbibliothekar der Universität Würzburg Dr. Michael Feder') die Bearbeitung des einzigen Codex rescriptus, den diese Bibliothek kurz vorher aus der Würzburger Domstiftsbibliothek erhalten hatte, begann und in kurzer Zeit vollendete, so dass der vormalige Domstifts-Archivar J. A. Oegg in seinem wenig bekannt gewordenen Buche:,,Versuch einer Korographie der Erz- und Grossherzogl. Haupt- und Residenzstadt Würzburg, oder historische Entwicklung ihrer Erbauung und Cultur I. Band. Würzburg 1808." S. 360-376. VI. ,,Codex deletus continens

1) Ueber Feder vergleiche man: Ant. Ruland: Series et vitae Professorum SS. Theologiae, qui Wirceburgi a fundata Academia per divum Julium usque in annum MDCCCXXXIV docuerunt. Wirceburgi 1835. p. 193-199.

Fragmenta Italae" bereits ausführlich über den Inhalt dieses Palimpsestes Rechenschaft geben konnte. Der unterdessen in den Ruhestand versetzte Oberbibliothekar überliess auf Bitten des Dänen Münter ihm gerne die Herausgabe dieser Fragmente, welche 1819 unter der Aufschrift erschienen:

Fragmenta versionis antiquae latinae Antehieronymianae prophetarum Jeremiae, Ezechielis, Danielis et Hoseae, e codice rescripto Bibliothecae Universitatis Wirceburgensis. Programma, quo inaugurationem Reverendissimi Episcopi Ripensis Stephani Tetens... peragendam indicit D. Fridericus Münter, Selandiae Episcopus. Hafniae MDCCCXIX. 4o. 44 Seiten.

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Von dieser Zeit an ward dieser Würzburger Codex öfters besprochen und von ihm eine freilich nicht sehr gelungene Schriftprobe gebend, nahm Ulrich Friedrich Kopp Veranlassung seinem Buch: „Bilder und Schriften der Vorzeit. Mannheim 1819." Band I. S. 185-194. „eine Untersuchung über das Alter und die Eigenschaften der codicum rescriptorum" einzuschalten.

Münter selbst auf A. Mai hinweisend sagt:,,Neque abjicienda spes, similes copias prodituras e Bibliothecis Germanicis, iis maxime, quae antiquissimis codicibus in thesauris et sacrariis Ecclesiarum cathedralium atque cenobiorum per multa abhinc secula religiosissime servatis, abundant. Quam quidem exspectationem haud irritam fore, fidem faciunt ipsa illa veteris versionis prophetarum fragmenta, quae heic in conspectum damus. Namque haec in tabulario Capituli Wirceburgensis per mille propemodum annos servata, post rerum germanicarum novissimas conversiones in Bibliothecam florentissimae Universitatis a Julio Episcopo ac Principe sapientissimo ista in urbe conditae migrarunt. Neque neglecta illa. Is enim qui tum temporis Bibliothecae praeerat, Michael Federus, Theologus multis nominibus clarus, ad difficile opus dudum alacri animo sese accinxerat, et immenso sane labore literarum veteres plurimumque pene evanidos ductus, sub recentiori scriptura magnam partem latentes, multis in foliis extricaverat atque integras columnas, ubicunque liceret, in suas schedas transscripserat; ingravescente vero aetate impeditus quo minus in publicam ederet lucem."

Von da an fanden grössere Leistungen hervorgegangen aus teutschen Bibliotheken nicht mehr statt, bis endlich ein in der Litteratur rühmlich bekannter Mann auch diesen Gegenstand mit besonderer Liebe erfasste und seine gewonnenen Resultate in dem Buche veröffentlichte:

,,Lateinische und Griechische Messen aus dem zweiten bis sechsten Jahrhundert. Herausgegeben von Franz Joseph Mone, Archivdirector zu Karlsruhe.

Mit einer Schrifttafel. Frankfurt am Main. Verlag von C. B. Lizius. 1850. 4o. V. 170.

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In diesem Werke legte der Archivdirector Mone das Resultat vieler Forschungen und Studien im PalimpsestenWesen nieder.

Die Herausgabe der Quellensammlung für die badische Landesgeschichte hatte Mone auf die Untersuchung einer ehedem dem bekannten Kloster Reichenau (Augia dives!) gehörigen Pergamenthandschrift in 4"., Nr. 253 geführt, welche nun in der Hofbibliothek zu Karlsruhe aufbewahrt wird. In dieser Handschrift, welche den Commentar des heil. Hieronymus zum Matthäus enthält, der jedenfalls theils im siebenten, theils im achten Jahrhundert von einer fränkischen Hand geschrieben und wahrscheinlich noch vom heil. Pirmin aus seinem Vaterlande Lothringen (Austrasia) um 724 in die Reiche Au gebracht worden war in diesem Codex fand Mone schwachgelbe Streifen, theils zwischen den Zeilen, theils quer über dieselben und Anzeigen, dass einzelne Pergamentblätter abgerieben und darum hier und da durchlöchert waren. Spuren alter Schrift konnte Mone kaum erkennen. Sorgfältige Untersuchungen gaben kund, dass die ursprüngliche Tinte metallische Stoffe enthielt, die mit dem Reagens des Schwefelammonium behandelt werden durfte, ohne dass hierdurch der Commentar des Hieronymus bei sorglichem Verfahren leiden würde. In Folge der Anwendung dieses Reagens trat denn die alte Schrift wieder grösstentheils hervor, wo denn Mone die Entdeckung machte, dass dieser Codex mehrere alte Werke von zum Theil verschiedenem Formate enthielt, wornach also das Pergament zum Hieronymus aus verschiedenen uralten Handschriften entnommen war.

Das erste rescribirte Werk enthielt 45 Blätter, auf der Seite je 18 Zeilen, welche eilf Messen der urältesten gallicanischen Liturgie, wenn auch unvollständig, darboten. Diese kostbaren, wenigstens dem vierten Jahrhundert angehörigen Reliquien sind ein wahrer Schatz, und für den christlichen Theologen eben so werthvoll als dem Philologen das rescribirte Fragment irgend eines Autor classicus, indem sich gerade in solchen Liturgien die expressen Glaubens-1) und Sittenlehren der christlichen Kirche am lebhaftesten manifestiren.

Mone gab diese Liturgischen Ueberreste in dem dritten Capitel seines Werkes von S. 15-38.,,Text der gallicanischen Messen" unter Beibehaltung ihrer lingua rustica oder dem damaligen Volksidiom sorgfältig mit Erläuterungen her

1) Ueber den theologischen Werth solcher Liturgien vergleiche man: Ant. Ruland: De S. Missae Canonis ortu et progressu nec non valore dogmatico. Herbipoli. 1834. 8o.

aus. Eben dieses gab ihm auch Veranlassung ein „Viertes Capitel über die Sprache der rescribirten Werke in Gallien," beizufügen, in welcher Sprache er eben den Grund zu finden glaubte, aus dem der Text vieler alter Codices getilgt und das Material rescribirt wurde.

Ebenda gab Mone S. 40 den von ihm weiter entdeckten Inhalt derselben Reichenauer Handschrift Nr. 253 an. Diese Handschrift nämlich enthielt ferner:

1. Die Quelle der Schrift Tertullians ,,Adversus Judaeos" in 30 Blättern.

2. Ein lateinisches Psalterium, von den vorhandenen Recensionen abweichend und doch auch wieder übereinstimmend, welches Mone desshalb ,,Psalterium italo-gallicanum" nannte, bezüglich der Schrift - die schönste dieser Palimpsesten.

3.,,Psalterium italicum," sich mehr der römischen Recension anschliessend, dessen Züge jedoch sehr erloschen und wenig lesbar sind.

4. Bruchstücke der ,,Sermones Caesarii Arelatensis, in wenigen Blättern bestehend.

5. Einige Blätter anderer Reden, worunter eine „De die judicii" jedoch, weil mit Pflanzentinte geschrieben, fast ganz unlesbar.

Einen anderen Codex rescriptus fand und untersuchte Mone in der Reichenauer Handschrift Nr. 112. in klein Folio, rescribirt in der Mitte des achten Jahrhunderts. In ihr entdeckte er 27 rescribirte Blätter, je zu 24 Zeilen auf der Blattseite, eines,,Missale Gregorianum" indessen der neue Text einen angeblich ungedruckten Grammatiker, das dritte und vierte Buch des Juvencus und einen Theil von Isidori Origines enthält, welche Schrift höchstens 60-70 Jahre jünger sei als die gelöschte ältere!

Auch diese schätzbaren Fragmente veröffentlichte Mone, in so weit er eine Abweichung von den bei Menardus und Muratori veröffentlichten alten Missal-Texten zu finden glaubte S. 119-122 seines Buches.

Ein in derselben Handschrift vorfindlicher Ueberrest von 10 Blättern zweispaltig schöner Schrift, enthaltend ein „Psalterium gallicanum" ist wegen der gebrauchten und stark abgeschabten Pflanzentinte wenig lesbar.

Mit zwei weiteren Codicibus rescriptis in der Stadtbibliothek zu Trier, und dreien zu Darmstadt kam Mone nicht zum Abschluss.

Zugleich erwarb sich aber auch Mone in diesem Buche nebenbei ein Verdienst durch seine praktischen,,Notizen über das Bücherwesen" wo er so recht verständlich die Behandlung der Palimpseste vor Augen führt, mit den Reagentien und deren Anwendung S. 165. 166 schliessend.

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