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Viertes Heft.

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I.

Zur Stellung Jesu gegenüber dem
mosaischen Gesetze.

(Matth. 5, 17-48.)

Von

Albert Klöpper,

Dr. und Professor der Theologie zu Königsberg i. Pr.

Die so überaus schwierige, aber bedeutungsvolle Frage nach der principiellen, wie praktischen Stellung, die Jesus zu dem ihm überkommenen mosaischen Gesetze eingenommen hat, ist in den neuesten Untersuchungen über das Selbstbewusstsein Jesu und seine Lehre vom Reiche Gottes wiederum, sei es in ausführlicherer, sei es in kürzerer Form der Gegenstand lebhafter Erörterungen geworden. Es lässt sich dabei die erfreuliche Thatsache constatiren, dass man es mehrfach versucht hat, um der Lösung des fraglichen Problems näher zu kommen, dasselbe auf eine breitere Basis zu stellen, es im engsten Zusammenhange mit Fragen allgemeiner Natur, insbesondere den Charakter der Predigt Jesu überhaupt zu erörtern.

Indem man diese letztere daraufhin untersuchte, ob in ihr ein positives Verhältnis zu den Formen und Interessen des irdischen Gemeinschaftslebens, wie Besitz, Ehe, Volkstum, angebahnt sei, oder eine weltverneinende, asketische Stimmung zum Ausdruck komme, glaubte man von hier aus auch (XXXIX (N. F. IV), 1.)

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über die Position eine klare Anschauung gewinnen zu können, die Jesus zu der Gesellschaftsnorm der Thora eingenommen. Aber die sich nicht unwesentlich widersprechenden Resultate, zu denen Ehrhardt (der Grundcharakter der Ethik Jesu. 1895. S. 65 ff.) auf der einen, und Titius (Jesu Lehre vom Reiche Gottes. 1895. Die Neutestamentliche Lehre von der Seligkeit I, S. 67-87, bes. 82-85) auf der anderen Seite auf diesem Wege gelangt sind, beweisen, ein wie missliches Ding es ist, auf noch nicht hinreichend geebnetem Fundament einen festen Bau aufführen zu wollen.

Es muss daher nach Lage der Dinge noch immer als der sicherste Weg, dem fraglichen Problem näher zu kommen, bezeichnet werden, die einzige Stelle, an der sich Jesus über seine diesbezügliche Position ausführlicher auslässt, Matth. 5, 17-48, einer genauen exegetischen Untersuchung zu unterwerfen. Bei dieser Erörterung dreht sich das Hauptinteresse zweifelsohne um die Frage nach der Echtheit der Verse 18 f., in denen die conservative Haltung strengster Gesetzesobservanz dem Herrn in den Mund gelegt wird. Doch glauben wir, dass man schwerlich über diese Verse zu einem einigermassen sicheren Urteile wird gelangen können, wenn man nicht die von Vers 21 an folgenden Beispiele und Erörterungen, die Jesus selbst giebt, mit in den Kreis der Betrachtungen zieht; eine exegetische Pflicht, die gewöhnlich verabsäumt oder doch nicht in genügender Weise innegehalten wird, deren Nichtbeachtung es jedoch sicherlich mit zuzuschreiben ist, wenn noch heute die widersprechendsten Anschauungen über die Bedeutung der Verse 18 f. laut werden. Denn mit der gleichen Entschiedenheit, mit welcher Forscher wie Pfleiderer (das Urchristentum, S. 495 f.), Holtzmann z. d. St., Issel (die Lehre vom Reiche Gottes im Neuen Testament, S. 75-82), Paul (die Vorstellungen vom Messias und vom Gottesreich bei den Synoptikern, S. 27 f.) die fraglichen Verse auf Rechnung einer streng judenchristlichen Richtung in der Urkirche setzen, werden sie von

B. Weiss z. d. St., Wendt (die Lehre Jesu II, S. 340 ff.), Beyschlag (Neutestamentliche Theologie I, S. 108), Titius a. a. O. dem historischen Christus zugesprochen, während Weizsäcker (das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, S. 29) zu keiner ganz festen Entscheidung kommt, und Jacob (Jesu Stellung zum mosaischen Gesetz, vgl. bes. S. 30 Anm. 1), wenn auch nicht unsere Verse, so doch die Parallelstelle zu V. 18 Luc. 16, 17 für echt erklärt.

Treten wir nunmehr in die Untersuchung selbst ein. In Matth. 5, 17 setzt sich Jesus zunächst einer Vorstellung entgegen, nach welcher als der Zweck seines Gekommenseins die Auflösung des Gesetzes oder der Propheten anzusehen wäre. Er erklärt, er sei nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen (μὴ νομίσητε, ὅτι ἦλθον καταλῦσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας· οὐκ ἦλθον καταλῦσαι, àλhà nλngwσαι). Es ist nun gewiss nicht ohne Bedeutung, dass Jesus in der Bekämpfung einer falschen Auffassung des Zwecks seiner Mission nicht blos das Gesetz, sondern auch die Propheten als dasjenige namhaft macht, was er nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen gekommen sei. Da in der ganzen, weiter folgenden Erläuterung V. 18-48 der Propheten als Organe göttlicher Weissagung mit keinem Worte gedacht wird, so können dieselben in ihrer Zusammenstellung mit dem vóuos nur in dem Sinne in Betracht kommen, als sie ebenso, wie der Gesetzgeber selbst, als Dolmetscher des göttlichen Willens eine dem Thun der Israeliten seine Norm angebende Function ausüben 1).

1) Eine ähnliche Zusammenstellung von Gesetz und Propheten findet statt Matth. 7, 12; 22, 40. Luc. 16, 29. 31. Auffallender Weise vertritt unter den neuesten Exegeten noch Lütgert (d. Reich Gottes nach d. synopt. Evv., S. 52 f.) die gegenteilige Auffassung. Wie aber, abgesehen von den bereits gegen diese Meinung angeführten Gründen, Jesus in die Lage gekommen sein sollte, sich gegen die Zumutung verteidigen zu müssen, er wolle die Verheissungen der Propheten ungültig machen, ist nicht einzusehen.

Der Sache nach wird es also als irrtümlich bezeichnet, dass Jesus die ihm in der heiligen Schrift vorliegenden vorzeichnenden Willensverfügungen Gottes durch seine Haltung und Deutung ihrer Gültigkeit und Autorität zu berauben beabsichtige. Denn in diesem Sinne wird man jedenfalls das zavalvoa im Hinblick auf Stellen wie 2 Macc. 2, 22; 4, 11. 4 Macc. 4, 24. Xenoph. memorab. 4, 4. 14. Isocr. paneg. 129 E. 130 A. Polyb. 3, 8. 2 aufzufassen haben. Es handelt sich also bei demselben nicht um die Übertretung einzelner Gebote, welche sich im Gesetz oder in den Propheten finden, sondern um ein principielles für nicht verbindlich Erklären derselben seitens eines solchen, der sich als neuer Gesetzgeber für befugt erachten sollte, jene Massregel in Angriff zu nehmen.

Anstatt in einem solchen zarahtoa sieht nun Jesus seine Aufgabe in dem λngoa dieser gesetzlich-prophetischen Vorzeichnungen des Willens Gottes. Dasselbe kann, als Gegensatz zu zavalvoaι ins Auge gefasst, nicht einfach so viel sein, als τηρῆσαι, φυλάξαι, ποιῆσαι sc. τὸν νόμον legi satisfacere, legem observare, sondern es muss einen Act bedeuten, den ein solcher ausführt, welcher, sei es als Prophet oder als Messias geachtet, die Befugnis besitzt, rücksichtlich der Befolgung des Gesetzes und der Propheten massgebende Gesichtspunkte zu eröffnen, und zwar nach der Richtung hin, durch welche die Erfüllung jener göttlichen Willensoffenbarer in einem höheren Grade sichergestellt wird, als dies bisher der Fall war. Dieser Act des лλŋgōσa kann an sich noch ein doppeltes in sich schliessen: entweder das, dass der ihn Ausübende den geltenden Verkündigern des göttlichen Willens dadurch ihre volle Befolgung sichert, dass er nicht blos für seine Person sich als die Verkörperung der Gesetzestreue darstellt, sondern auch anderen durch sein Vorbild und seine Lehre den Antrieb giebt, dem in Gesetz und Propheten offenbarten göttlichen Willen volles Genüge zu thun. Bei dieser Deutung des λngãoα würde stillschweigend vorausgesetzt sein, dass der Wille Gottes.

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