Page images
PDF
EPUB

den Juden ja keinen Anstoss zu geben, beschneidet er selbst den Timotheus (16, 3), tritt zuerst in den Synagogen auf, sogar in Athen (17, 17), oder wenigstens an dem Betorte der Juden (16, 13. 16) und geht nur in Folge ihres Unglaubens zu den Heiden über (18, 6). Paulus (oder Aquila) unternimmt selbst eine Haarschur auf Grund eines Gelübdes (18, 18). Dazu kommt die Rücksicht auf die Urgemeinde in der Überlieferung des Apostel-Decrets (15, 41 ß. 16, 4). Die wunderbare Befreiung in dem Gefängnis zu Philippi (16, 24-34) ist ein Seitenstück zu der ähnlichen Befreiung des Petrus (12, 7 f.).

Mit diesen Zusätzen hängen auch sichtliche Umänderungen zusammen, wie bei dem Auftreten des Paulus in Thessalonich (17, 1—4), wohl auch in Beröa (17, 10. 11). Das Entstehen einer heidenchristlichen Gemeinde in Thessalonich, welche wir nicht ein Jahr nach ihrer Begründung aus dem Briefe des Paulus kennen lernen, ist nach der Apostelgeschichte, wie sie vorliegt, unbegreiflich.

Auf den Autor ad Theophilum könnte man auch Übergehungen zurückführen, wie die Begründung der Gemeinden in Galatien (16, 6), wenn nicht schon seine Vorlage (C) die Trennung des Barnabas und des Paulus (15, 39 f.) anders, als der Bericht des Paulus selbst lehrt (Gal. 2, 13), abgeleitet hätte. Das Auftreten des Paulus in der Synagoge von Ephesus (18, 19) ist so unverfänglich, dass wir es schon dieser Quellenschrift zuschreiben dürfen. In Ephesus eben angekommen mit dem gläubigen Juden Aquila, konnte Paulus kaum anders, als in die Synagoge gehen, um seine spätere Heidenbekehrung vorzubereiten. Die Festreise nach Jerusalem, welche ihm ein längeres Verweilen in Ephesus verbot (18, 21), wird mit seiner Verpflichtung zu Liebesgaben für die Urgemeinde zusammenhängen.

Die Vorlage, welche der Autor ad Theophilum bearbeitete, dürfen wir nach dem Wir-Abschnitte 16, 10-17 ansehen als die Schrift eines Begleiters des Paulus, welcher in Philippi zurückgeblieben sein wird. Nach 11, 28 ẞ war

216

A. Hilgenfeld: Die Apostelgeschichte. Art. VI.

er einer der ersten Christen Antiochiens, vor seiner Bekehrung wohl ein jüdischer Proselyt. Aus einer vorzüglichen Quelle stammt also die Darstellung der von Antiochien ausgegangenen Heidenbekehrung, deren bedeutendste Kraft Paulus ward. Als das auserwählte Gefäss, den Namen Christi zu tragen vor Heiden und Königen (9, 15), hat Paulus, zum zweitenmal von Antiochien ausgehend, weiter und anders geführt, als seine ursprüngliche Absicht war, mit dem urgemeindlichen Genossen Silas auf dem classischen Boden von Makedonien und Achaja erfolgreich, trotz jüdischer Anfeindung, das Christentum begründet, auf dem Areopagos von Athen der heidnischen Weltbildung Sinnesänderung verkündigt, in Korinth, wo er längere Zeit wirkte und einen europäischen Waffenplatz des Christentums begründete, vor dem römischen Proconsul die Abweisung der jüdischen Anklage erfahren, auf der Rückreise in Ephesus den zukünftigen Waffenplatz in Asien berührt, aber den Zusammenhang mit der Urgemeinde durch flüchtiges Erscheinen in Jerusalem zu einem Feste gewahrt. Je mehr der Gesichtspunkt der äusseren Ausbreitung des Christentums in der Heidenwelt hervortritt, desto begreiflicher ist es, dass der innere Fortschritt des paulinischen Heiden- Evangeliums über das urgemeindliche Juden-Christentum zurücktritt, dass schon ein Begleiter des Paulus die paulinische Begründung des Christentums in Galatien rücksichtsvoll zurückstellt.

VIII.

Die Grundzüge des christlichen Gemeinglaubens um das Jahr 150,

nach den Apologien Justins des Märtyrers

dargestellt von

Dr. ph. O. Craemer in Berlin.

Die Zeit der ersten Christenheit wird, als für Glauben und Institutionen grundlegend, immer die wichtigste der ganzen Kirchengeschichte sein. Nur die der Reformation kann sich an Bedeutung mit ihr messen, und auch die Betrachtung dieser Zeit muss immer auf die erste zurückgreifen. Hauptsächlich die Zeit des Übergangs vom Urchristentum zur katholischen Kirche wird in vieler Hinsicht für das Verständnis der kirchengeschichtlichen Entwickelung von principieller Bedeutung sein. Es ist jene Zeit um die Mitte des zweiten Jahrhunderts eine Zeit gewaltigen Ringens zwischen altem und neuem Glauben. Die junge Saat des Christentums (Justin Ap. II, 7) wächst heran, aber noch bedarf die junge Gemeinde des Schutzes. Da sie den Schutz der Macht nicht haben kann, schafft sie sich selbst den Schutz des Geistes. Es treten Apologeten auf und suchen die Kluft zwischen der Antike und einer neuen, christlichen Zeit zu überbrücken. Es gilt das geistig Verbindende und Trennende zu sondern und klar zu legen. Mächtig war das Verlangen, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, den Schutt der Culte und sinnlosen religiösen Ceremonien abzuwerfen und den Ertrag der religiösen Philosophie, jene einfachen, grossen Sätze von dem geistigen Gott, Tugend und Unsterblichkeit als sichere Wahrheiten glauben zu dürfen. Wer die Bot

schaft brachte, dass diese Ideen Realitäten seien, „der hatte die mächtigsten Gewalten für sich, denn für diese Predigt war die Zeit erfüllt." (Harnack, Dggsch. 3. Aufl. 1894. I, S. 373.) Namentlich sind es zwei Männer, die eine Vermittelung zwischen den beiden so schroff sich trennenden Weltanschauungen gesucht und gefunden haben: Aristides und Justin, und zwar so, dass Aristides das Band von der Antike zum Christentum, Justin vom Christentum zur Antike knüpfte. Besonders den letzteren hat die Tübinger Kritik stets als Übergang zur katholischen Kirche hin angesehen (s. A. Hilgenfeld: Ztschr. f. w. Th. XXII, 1879. IV, S. 494). Hervorgegangen aus griechischer Philosophenschule, erkannten beide das Christentum als die höchste und offenbarte, absolute Philosophie, und sie fühlten bereits, dass dies die Macht der Zukunft sei. Während aber Aristides gleich in der Adresse seiner Apologie „An den Imperator Hadrianus Caesar von dem Philosophen Aristides aus Athen" sich als Philosophen bezeichnete (s. Texte u. Unters. z. altchristl. Litt. I, 1, 2 S. 110 f.), tritt Justin als einer aus der Christenmasse auf und redet für seine bedrängten Glaubensgenossen (víèg tŵv ἐκ παντὸς γένους ἀνθρώπων ἀδίκως μισουμένων καὶ ἐπηρεαζομένων, Ἰουστῖνος elç avτav iv. Just. Ap. I, 1), „er wollte das Christentum behaupten, welches die christlichen Gemeinden bekannten, und was öffentlich verkündigt wurde“. (Harnack, Dggsch. I, S. 455.) Wenn er auch diese Absicht nicht rein durchführte, und seine Auseinandersetzungen vielfach philosophischer Art sind, weil er einerseits, wie erwähnt, selbst Philosoph war, andererseits einen philosophisch gebildeten Adressaten vor sich hatte, auch zeigen wollte, dass die Christen, obwohl sie soviel Ähnlichkeit mit Philosophen haben, doch weit schlimmer behandelt würden, so spiegeln sich doch in den Schriften dieses ältesten Kirchenvaters der Glaube des Volks, der Cult, die Anschauungsweise und Sitten der Urkirche in ganz hervorragender Weise wieder. „So steht er als der grundlegende Apologet an der Spitze der patres ecclesiae und hat für die Geschichtsauffassung ent

scheidende Bedeutung." (A. Hilgenfeld: Die neuorthod. Darstellung Justins durch M. v. Engelhardt. Ztschr. f. w. Th. XXII, 1879. IV. S. 493.) Natürlich findet sich auch bei anderen Schriftstellern der Gemeindeglaube, aber meist bieten sie, wie z. B. Athenagoras, abgezogene Maximen und Principien, ohne, wie Justin, bestimmte scharfe Züge des Gemeindeglaubens zu berichten und ohne in die Breite zu gehen. Ist denn aber der Glaube der Kirche nicht derselbe wie der der Gemeinde? Nein, denn auch in unseren Tagen ist der Glaube des Volks und der Gemeinde nicht überall und allenthalben derselbe wie der wissenschaftlich ausgeprägte theologische Glaube. (Vgl. dazu das von feiner Beobachtung zeugende Buch: Zur bäuerlichen Glaubens- u. Sittenlehre von einem thür. Landpfarrer. Gotha 1885.)

Das Zeugnis Justins für den Gemeindeglauben um das Jahr 150 (I, 46) ist um so wichtiger, als wir bei ihm, ähnlich wie bei Tatian, annehmen dürfen, dass es nicht der Glaube einer einzelnen Gemeinde, sondern fast der ganzen damaligen Christenheit war. Geboren zu Sichem in Samarien (Ap. I, 1), zog Justin durch die ganze damals bekannte Welt und lernte auf diese Weise vieler Gemeinden Glauben, Sitten und Gebräuche kennen. Auch haben wir insofern eine Gewähr, dass Justin den wahrhaft christlichen Gemeindeglauben bietet, als dieser älteste Kirchenvater, fast als einziger, von der katholischen Kirche nie seiner Lehre wegen angefochten wurde. Er galt ihnen als ein echter und tadelloser Repräsentant des kirchlichen Gemeindeglaubens und Christentums, wie sie es selbst auffassten" (M. v. Engelhardt: Das Christentum Justins des Märtyrers, Erlangen 1878, S. 2). Ob er trotzdem, streng genommen, weder im römischen noch evangelischem Sinne orthodox war, steht weniger in Frage. Man sollte sich überhaupt hüten, einen modernen dogmatischen Massstab, der doch oft auch nur zu eklektisch ist, an die apostolische und nachapostolische Lehre zu legen und gleichsam als Richter und vindex über den Kirchenvätern zu sitzen (s. A. Hilgenfeld gegen M. v. Engel

[ocr errors]
« PreviousContinue »