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fordert (S. 72. 45), da er ja nicht zwingende Beweise für die Religion geben will und der letzteren Eigenart und Souveränität anerkennt.

In einem „Excurs über die 3. Auflage der Dogm." weist Verfasser auf einige Punkte aus früheren Veröffentlichungen von Lipsius hin, die dazu beitragen, die Wendung, die in jener Auflage vorliegt, verständlich zu machen. Zu dem von Baumgarten der 3. Auflage beigegebenen verdienstvollen Publicationen verzeichnisse giebt Neumann eine Ergänzung durch Hinweis auf dort nicht erwähnte Artikel über Weisse (Bl. f. litter. Unterh. 1857) und eine Berichtigung. Auf Grund gütiger Mitteilung vermag ich noch zwei weitere Nachträge hinzuzufügen die Rede Ueber die Stellung der Theologie etc." (gehalten 1871) ist auch in der Predigt der Gegenwart X, S. 97 ff. (1873) veröffentlicht; der Vortrag In welcher Form sollen wir den heidnischen Culturvölkern das Evangelium bringen?" (1887) ist ein Separatabdruck aus der Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft II, 129 ff. (1887).

In der vorliegenden Schrift muss es S. VII, Anm. 1 und S. 22, Anm. 2 „Seydel" statt „Seidel“, S. 36 Anm. 2 „Vaihinger" statt „Vahinger" heissen.

Halle (Saale).

Dr. M. Scheibe.

A. Dorner, Das menschliche Handeln. Philosophische Ethik. Berlin 1896. gr. 8°. XII u. 737 S.

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Wird die causale" oder teleologische" Betrachtung des Universums das letzte Wort behalten? Eine Variation dieser Frage ist die andere: Kann die Ethik restlos aus dem Naturresp. Seelenmechanismus „abgeleitet" werden, oder rechnet sie mit einer unableitbaren" Eigentümlichkeit, die auch über jenen Mechanismus auf etwas Anderes hinweist?

Der Herr Verfasser vertritt voll und ganz den teleologischen Standpunkt. 1. Die psychologische Untersuchung des sittlichen ,,Phänomens" ergiebt ihm einen unableitbaren, a priorischen, der Sittlichkeit eigentümlichen Bewusstseins factor. 2. Eine weitere Untersuchung führt ihn auf die metaphysischen und religiösen Voraussetzungen der Ethik.

1. Soll das Sittliche nicht im psychologischen Mechanismus aufgehen, so darf das sittliche Bewusstsein kein Product der Reflexion auf Handeln und Begehren" (26) sein. Die zweck

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setzende Intelligenz" als Bewusstsein einer Norm darf sich auch nicht aus dem Gefühl des Unbefriedigtseins erklären lassen (34), selbst also auch kein Gefühl sein. Sie muss das neue Bewusstsein eines unbedingten „Soll" sein, damit selbst unbedingt, a priori! Mögen die concreten Inhalte, die unter dem Licht dieses Soll als Pflichten erscheinen, in den Zeiten sich verändern, das unbedingte Soll als Form ist unveränderlich. Die jener unmittelbaren Form der ethischen Intelligenz entsprechende reflectirte Form giebt ebenfalls keine aus der Erfahrung abstrahirten Begriffe, sondern über dieselbe hinausgehende Zweckbegriffe. Mögen auch logische Massstäbe bei deren concreter Ausgestaltung massgebend sein, so doch nicht bei ihrer Entstehung. Ebenso mag das Gefühl der Unlust die Veranlassung ihrer Ausgestaltung sein, nimmermehr der Mutterboden, aus dem sie emporspriessen.

Diesen für einen bestimmten Standpunkt bedeutungsvollen Ausführungen müssen wir schon etwas ausführlicher zu begegnen suchen.

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Wir lernen das Soll" in der Erfahrung als Befehl kennen. Der Befehlende (wünscht oder) will einen Zustand herbeiführen, dessen natürliche Bedingungen nicht (noch nicht oder nicht mehr) verwirklicht sind. Diese Bedingungen oder den Zustand selbst will er durch die Handlung eines anderen Individuums herbeiführen. Es kommt so alles darauf an, das andere Individuum zur („beabsichtigten") Handlung zu zwingen, entweder durch eine eigene Handlung oder durch Worte (Befehle). Diesen Worten kann noch die Drohung einer Strafe im Falle des Nichtfolgens beigegeben werden. Immer wird für das andere Individuum die befohlene Handlung zu etwas Notwendigem, Unvermeidlichem. Es muss"; es steht unter einem „Druck". Die Handlung tritt unter diesem Druck ebenso ein, wie unter dem der Verhältnisse". War die „notwendige" Handlung bei ihrer Verwirklichung nun lustvoll, so führt das Individuum sie zum zweitenmal und so weiter „gern", mit Lust aus, weil es eine (noch grössere) Lust erwartet. War sie unlustvoll, so führt es sie nicht aus oder nur nach Verschärfung der Strafandrohung, oder erst nach vollzogener Strafe, oder „im Gedanken" an einen die Unlust überwiegenden Nutzen für sich oder andere, oder nach einer Ermahnung, Erinnerung an Gottes Gebot u. s. w. Wie kommt aber das erste Individuum zum Befehlen? Es will einen Zustand erreichen, der besser ist als der augenblickliche, etwa weil er nutzbringender ist, oder weil er mehr Lust verschafft, oder weil er den ,Geboten Gottes"

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entspricht oder der höchsten Entwicklung der Menschennatur“ u. s. w. Häufig hat das betr. Individuum nun von der Natur einen Zwang" verspürt, wo es nicht anders konnte. Durch diese „Erfahrung" wird es dazu gebracht, selbst Zwang auszuüben in That und Wort, weil es für sich oder einen anderen (etwa sein Kind) einen Vorteil davon erhofft. Dieser Zwang

im Wort kommt als Soll zum Ausdruck: du sollst. Die Reihe verläuft beim befehlenden Individuum demnach etwa so: Zwangserfahrung von seiten der Natur (oder anderer Individuen); Vorstellung eines besseren zukünftigen Zustandes, dessen Bedingungen oder der selbst durch die Handlung eines anderen Individuums herbeigeführt werden soll; Befehl an dies Individuum: du sollst (mit oder ohne Strafandrohung). Beim anderen Individuum setzt sich diese Reihe dann etwa so fort: Hören des Befehles; Bewusstsein des Zwanges (besonders noch Furcht vor Strafe); Handlung. Tritt hinter das Hören des Befehles im anderen Falle etwa Nichtbeachtung des Befehles und Auflehnung gegen den Zwang („der Mensch ist frei, und wär' er in Ketten geboren"), so kann die Reihe erst durch Strafe verschärftes Zwangbewusstsein - Handlung zu Ende gehen oder eine Zwangaufhebung herbeiführen. Neben diese sehr einfachen Fälle stellen wir nun noch den wichtigen, wo das Individuum die Herbeiführung seines Ideals, d. h. des besseren resp. besten Zustandes durch eigene Handlung herstellen will. Auf die Vorstellung des Ideals folgt dann in Gedanken“ ein Befehl an sich selbst (Bewusstsein des Soll); Zwangsbewusstsein; Handlung. Folgt hinter dem Befehl an sich selbst Nichtbeachtung desselben (infolge irgend welcher Einflüsse), so geht die Reihe durch Gewissensbisse"; verschärftes Zwangsbewusstsein zur Handlung oder durch Niederkämpfung der Gewissensbisse; Vernichtung oder Beschneidung des Ideals zur Unterlassung der Handlung. Durch Uebung vermag das Zwangsbewusstsein mit daraus hervorgehender Handlung ohne ausdrücklichen gedanklichen Befehl an sich selbst zu erfolgen: der betreffende Charakter" wie man's dann nennt kann nicht mehr anders, er ,,muss seinen Principien folgen". Das Befohlene endlich kann ganz abblassen zu „dem, was sein soll oder sein sollte", ohne dass ein entsprechender Befehl oder entsprechendes Zwangsbewusstsein erfolgte. Das „Soll" stammt also aus der Erfahrung. Freilich ist es weder (rein) Reflexion, noch Gefühl, noch ein neues apriorisches Moment über die Erfahrung; es ist ein Erfahrungsmoment, das wie alle eine grosse Entwickelung hat und sich in sehr verwickelten Complicationen darbieten mag.

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Aus dem Folgenden sei hervorgehoben, dass nach dem Herrn Verfasser der Anfang der Sittlichkeit da zu suchen ist, wo das „active Ich“ über die „Gegebenheit“ mit ihrer Lust und Unlust, ihrem Hass und ihrer Liebe, Neigung und Stimmung sich erhebt, um Einheit durch sich selbst herzustellen (83). Die praktische Vernunft", die sowohl Vernunft des Ich ist, als alles harmonisiren will, giebt den „ethischen Zweck“ an, unter dessen Herrschaft die Triebe ausgeglichen (nicht vernichtet) werden sollen (87). Nachdem so das Ich den „geteilten Trieben" entgegengetreten ist (91), wird es durch die Unzufriedenheit mit der bisherigen Disharmonie weiter veranlasst“, sich mit dem ethischen Gesetz zusammenzuschliessen (108 f.). Hier sind nach unserer Ansicht zu viel Metaphysicismen (man denke an das „active Ich“) verwertet. Die Einsicht in das Werden des Willens und damit zusammenhängend des Ichbewusstseins scheint erst einmal ohne alle diese Annahmen vom „activen Ich", „praktischer Vernunft" gewonnen werden zu müssen, nach einer der vorhin gebrauchten ähnlichen Methode. 2. Jeder metaphysischen Richtung entspricht eine besondere Ethik und jeder Ethik eine besondere Metaphysik“ (234). Denn löste man die Ethik von der Metaphysik los, so hätte man keine Realitäten mehr, sondern nur subjective Vorgänge unter den Händen, also wäre auch kein unbedingtes Soll möglich (234 f.). Als nähere Voraussetzungen ergeben sich „das Ich", „die anderen Iche", die „Natur", das Füreinanderbestimmtsein von Natur und Geist (von Natur- und Sittengesetz), ,das absolute Wesen" als Ordner dieser Harmonie.

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Also ohne Metaphysik käme die Ethik im „Phänomenalismus" um?! Wir können hier nur auf ein Bestreben der modernen Philosophie aufmerksam machen, die Psychologie von der Metaphysik zu befreien und auf sich selbst zu stellen. Die Psychologie soll der Metaphysik nicht mehr als Ergänzung, die ihr erst Halt giebt, bedürfen. Deshalb liegt ihr daran, die Behauptung, sie sei phänomenalistisch, als eine metaphysische Verkehrung ihres wahren Wesens hinzustellen, d. i. als eine Verkehrung, die man nur von metaphysischen Vorurteilen aus machen kann. Freilich dürfen bei rein psychologischer Forschung dem „Ich", „den anderen Ichen", der „Natur" und ihrem Bestimmtsein für den Geist nur Merkmale „reiner Erfahrung" beigelegt werden. Der ganze Schatz der Anschauungen über das „Innere", das Dasein der „Seele“ ist nach der „reinen Erfahrung" umzugestalten. Ausführungen dieses Standpunktes

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können natürlich hier nicht gegeben werden. Es genügen die Namen E. Mach (Beiträge zur Analyse der Empfindungen 1886) und R. A venarius (Kritik der reinen Erfahrung 1888-1890). Die Gottheit" ist nach dem Herrn Verfasser metaphysisches Postulat der Ethik. Die diesem Postulat „entsprechende“ religiöse Erfahrung wird also der Ethik förderlich sein. Wenn auch das Sittliche frei von der Religion erkannt werden soll, so verstärkt doch die Religion das „, Auctoritätsgefühl der jedesmal gegebenen Sittlichkeit" (279). Eine wirklich eingehende psychologische Behandlung dieser Verstärkung, der sich entgegenkommenden Elemente des Sittlichen und Religiösen, ihres Zusammentretens u. s. w. würde ein wesentlicher Erwerb der theologischen Litteratur sein.

Wir haben uns davor bewahrt, Einzelheiten, welche als solche ihre Beziehung zum Ganzen nicht scharf erkennen lassen, herauszuzupfen" und von da aus den Standpunkt des vorliegenden Buches ins Auge zu fassen. Wir haben aber leider auch bei der Kritik einiger grundlegender Punkte den Reichtum des Gesamten dem Leser nicht zur Anschauung bringen können. Es ist doch sicherlich ein ebenso grosser Fehler, bei Darstellung eines Werkes das Einzelne aus dem Hintergrunde wegzulassen, wie ein Einzelnes ohne Berücksichtigung des Neuen herauszugreifen und für sich zu behandeln. Denn das Einzelne verschiebt oft die Bedeutung eines Problems, das bisher als grundlegend galt, und das Einzelne wirkt oft auf den Leser packender wie das vom Verfasser als „grundlegender Teil" Bezeichnete. Es vermag den Leser auch zur Anerkennung des Grundlegenden überzuleiten, wo bei isolirter Betrachtung desselben eine solche ausblieb. Treffende Bemerkungen finden sich in der Entwickelung und Beurteilung der ethischen Ideale: des eudämonistischen Ideals, der formalen Ethik des unbedingten Soll, der Verbindung von absoluter Ethik und Güterlehre (Eudämonie). Der ganze zweite Teil mit seiner Einteilung in Pflichten-, Tugend- und Güterlehre endlich bespricht in leicht und angenehm lesbarer Form, ohne oberflächlich zu werden, die Mannigfaltigkeit der Beziehungen, die von sittlicher Bedeutung für das Individuum, von demselben mit sittlichem Handeln und sittlicher Erkenntnis teils herzustellen, teils zu durchleuchten sind.

Elberfeld.

Dr. Emil Koch.

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