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Die Ritter- und Schäferdichtung.

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und die glückliche Unschuld des Hirtenlebens zu einem willkommenen Spielraum der Dichterphantasie werden. Die alten Ritterromane erneuerte Louis Elisabeth, Graf von Tref= fan (1705—93), einst Großmarschall des Königs Stanislaus. Seine „,,Allgemeine Romanbibliothek“ (Bibliothèque universelle des Romans, 1775—89) und seine „Auszüge aus Ritterromanen" (Corps d'extraits de romans de chevalerie, 1782, 4 Bände) gruben genug. alten Unterhaltungsstoff aus, den auch Wieland in einzelnen kleineren Verserzählungen (,,Geron der Adlige") und im „Oberon“ verwertet hat. Die Hirtenpoesie hielt aus der Schweiz ihren Einzug. Rousseau hatte schon vorgearbeitet, und Michael Huber (1727-1804) übertrug jezt den,,Tod Abels“ von Geßner und dann dessen „Idyllen“ (1762) und „Neue Jdyllen“ (1772) für die sentimentalen Feinschmecker der Pariser Gesellschaft. Eine Frische und bezaubernde Zartheit des Kolorits, eine so geistvolle und feinsinnige Pinselführung, eine so ausnehmende Sensibilität zeichneten diese Dichtungen aus, daß man ihre Grazie, ihren Zauber, ihre Ehrbarkeit nicht genug rühmen konnte. Nicolas Léonard (1744–93) versuchte es (,,Idylles morales“, 1766), Geßner nachzuthun; selbständiger folgte dem Meister der Dragonerhauptmann Jean Pierre de Florian (1755—94) in den Hain der Schäferdichtung. Geßner hatte in Situationen, Gesprächen, Betrachtungen einzelne Vorgänge aus dem Leben eines in idealer Natur und Einfachheit lebenden Hirtenvölkchens gezeichnet, Florian führte den Genießenden in längeren Erzählungen, wie „Galatée“ (1783, nach Cervantes) und „Estelle“ (1788), durch eine lachende Landschaft von Wiesen, Bächen, Hügeln und Wäldern, aber die Reinheit und Gewähltheit der Sprache diente nur einer faden Weichlichkeit der Gefühle und Gedanken. Florian schrieb auch Romane in poetischer Prosa von historisch-politischer Tendenz, eine Nachahmung von Fénelons ,,Telemach" (Numa Pompilius", 1786), die Marie Antoinette eine Milchsuppe" genannt haben soll, und einen Ritterroman ,,Gonzalve de Cordoue" (1791).

Ein gefälliges und vom Glück begünstigtes Talent besaß Jean François Marmontel (1723-99). Er kam 1743 mit Empfehlungen Voltaires nach Paris, hatte Erfolg mit einigen seiner Trauerspiele und erhielt 1758 die Redaktion des „Mercure", die er indessen wieder verlor, als wegen einer Satire auf den Herzog von Aumont einige Zeit in der Bastille gesessen hatte. Seine,,Moralischen Erzählungen" (Contes moraux, 1761-86) sind nicht im Goetheschen Sinne moralisch, indem sie uns zeigen,,,daß der Mensch in sich eine Kraft habe, aus Überzeugung eines Besseren selbst gegen seine Neigung zu handeln“, sondern sie nennen sich so, weil sie den Beweis führen, daß der Mensch nicht über seine Natur hinweg kann. In einer Reihe novellistisch behandelter Episoden schildert der Verfasser die lächerliche Einbildung solcher Menschen, die nur um ihrer selbst willen geliebt zu werden glauben („Alcibiade"), die Thorheit solcher, die durch eigene Kraft meinen eine Frau zur Vernunft bringen zu können („,Soliman II.“), die Selbsttäuschungen der Liebe (,,Scrupule"); oder er stellt Charakterbilder hin, wie den,,Eingebildeten Philosophen" (le Philosophe soi-disant), den,,Kenner" (le Connaisseur), die ,,Tugendhafte Frau" (la Femme comme il y en a peu), gibt Sittenschilderungen, erzählt rührende Situationen und entwirft anziehende Gemälde aus der Natur (Lausus et Lydie", „Die Alpenhirtin“ [la Bergère aux Alpes], „Annette et Lubin"). Diese Geschichten sind vielfach für die Bühne bearbeitet worden. Der größte litterarische Triumph Marmontels war aber sein philosophischer Roman „Belisar, der im Unglück große Mann“ (Bélisaire, 1767).

Die Geschichte selbst ist äußerst dürftig. Belisar ist geblendet und vom Hofe verbannt worden; während er nach seinem Familienschlosse wandert, erlebt er allerlei Abenteuer. Er kehrt in einem Hause ein, wo er sich mit jungen Leuten über Politik unterhält und die uneigennüßige Aufopferung für den Staat als die Grundlage jeder soldatischen Tugend predigt. Dann wird ihm Gelegenheit geboten, sich am

Kaiser zu rächen; aber er verzichtet auf diese Möglichkeit. Auf seinem Schlosse besuchen ihn abends Tiberius und Justinian; Belisar hält ihnen Vorträge über den Adel, die Könige und die Regierung, über Politik, Finanzen, über Tugend und Wahrheit, Glaube und Duldung. Das 15. Kapitel (von der Toleranz) ist das Hauptstück.

Der Roman ist wertlos und ohne geschichtliche Wahrheit, ein Lehrbuch von Gemeinpläßen; der Verfasser selbst aber hielt ihn für äußerst wichtig. Diderot war mit dem moralischen Teil sehr zufrieden, und es fehlte nicht an der Zustimmung der „Souveräne Europas“ und „der aufgeklärtesten und weisesten Männer“ der Zeit. Katharina II. ließ das Buch ins Russische überseyen, und sogar in dem katholischen Österreich wurde es gedruckt. Regierung und Parlament nahmen an „Belisar“ keinen Anstoß; aber der Erzbischof von Paris erließ gegen ihn einen Hirtenbrief, und die Sorbonne fand siebenunddreißig gottlose, irrtümliche, Keßerei atmende Säße darin.

Marmontel hat später, als Mitglied des ,,Rates der Alten“ (April 1797), dem Grundsaß unbedingter Duldung treu, volle Kultusfreiheit des katholischen Glaubens beantragt. In seinen „Incas“ (1777) ist der tugendhafte Peruaner Las Casas der Held, der die Religion der Menschlichkeit gegen den Fanatismus der spanischen Eindringlinge verteidigt. Ein liebenswürdiges Buch, das Marmontel einige Jahre vor seinem Tode geschrieben hat, sind die „Erinnerungen eines Vaters zur Belehrung seiner Kinder" (Mémoires d'un Père pour servir à l'instruction de ses enfants), die anziehende Darstellung eines glücklichen Lebensganges und der Pariser Gesellschaft, in der der Verfasser seit 1745 lebte. Der glückliche Optimismus und die liebenswürdige Schmiegsamkeit des Erzählers verleihen gerade der Schilderung jener Epoche eine ihrem Gegenstand entsprechende rosige Färbung.

Läßt sich schon bei Florian und Marmontel, wie in allen erzählenden Werken seit 1760, der Einfluß Rousseaus erkennen, so tritt dessen Einwirkung ganz entschieden hervor bei Bernardin de Saint-Pierre (1737—1814), den man mit Recht Rousseaus Schüler und Nachfolger nennt. Er war, nicht ohne Anspruch auf vornehme Abstammung, in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Als er seiner Stellung in dem neugebildeten Ingenieurkorps verlustig gegangen war, suchte er sein Glück im Auslande. Da es ihm in Rußland nicht glückte, ging er 1764 nach Warschau, sein Gönner, der General von Mercy, konnte ihm aber auch hier keine Versorgung verschaffen, die ihm genügte: menschenfeindlich und melancholisch kehrte er 1766 nach Frankreich zurück. Nachdem er als Capitaine-Ingenieur auf Ile de France gewesen war, gab er 1773 in einigen lebensvollen Skizzen in der,,Reise nach Ile de France" (Voyage à l'Isle de France) die ersten Proben seiner Begabung als darstellender Schriftsteller, aber es regte sich hier noch keine Begeisterung für die landschaftlichen Schönheiten der Tropenwelt. Während mancherlei fehlschlagender Versuche, behaglich und sicher versorgt zu werden, lernte Bernardin Rousseau kennen. Beide wurden Freunde, Bernardin meinte wie Rousseau, ein Recht zu haben, der Menschheit grollen zu dürfen, und machte die Anschauungen des Genfer Philosophen von Gott und Welt zu seinen eigenen. Jetzt endlich findet er seinen Beruf: „er schöpft Wasser aus seinem eigenen Brunnen". Sechs Jahre lang macht er Aufzeichnungen in der Hoffnung,,,unter viel Sand einige Goldförner zu bringen": er arbeitet an seinen ,,Naturstudien (Études de la Nature, 1783-88, 4 Bde.). Das Werk zerfällt nach Ursprung und Absicht in zwei Teile. Ein Gedanke verleiht dem ersten Teil inneren Zusammenhang: die Rechtfertigung der Vorsehung gegen die Einwendungen der Gottesleugner durch den Nachweis der causes finales, die Verteidigung der Ordnung und Harmonie in der Natur gegen die Anhänger der Meinung, es herrsche nur noch Unordnung und Zerfall. Die Natur ist überall schön. Er hat es erkannt:,,die unbegreiflich hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag". Nicht die

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berühmten großartigen Landschaften, sondern die scheinbar reizlosen Gegenden, die Heide, der Meeresstrand, eine Flußmündung, bieten dem gefühlvollen und nachdenklichen Betrachter reiche Genüsse. Schon Rousseau hatte gelehrt, daß die Natur die Quelle unserer Freuden sei, die Quelle unserer Leiden dagegen die Gesellschaft. Saint-Pierre führt denselben Gegensatz in der Schilderung der unbeseelten Natur durch und will daraus einen sittlichen Gewinn und einen Maßstab für die Beurteilung der Einrichtungen des menschlichen Zusammenlebens herleiten. Der Schönheit, der Zweckmäßigkeit und Harmonie der Natur stehen die Widersprüche, Mißbräuche und Unordnungen gegenüber, die das sittliche Gefühl und den Schönheitssinn in Erziehung, Staatsordnung und gesellschaftlicher Sitte verlegen. Bernardins künstlerische und moralische Naturbetrachtung stärkt ihn in seinem Glauben an einen göttlichen Urheber all dieser Schönheit, der über der Welt wirkt und schafft und zum Besten des Menschen alles zweckmäßig eingerichtet hat; denn für den Menschen hat der Schöpfer die Erde mit Pflanzen bekleidet, und es gibt keine einzige, die nicht für seinen Gebrauch benußt werden kann“. Aber der Versuch, die Sittenlehre auf die Gefeße der unbeseelten Natur zu gründen, mußte fehlschlagen. Liebe zur Natur und eine Beobachtung, die auch das Kleinste und Unscheinbarste andächtig bewundert, führten Bernardin nicht etwa zu einer wissenschaftlichen Betrachtung des Gegenstandes: diese wußte er nicht zu rühmen. Er begnügte sich damit, das, was er gesehen hatte, im einzelnen liebevoll zu beschreiben und die Wirkungen der Natureindrücke auf seine Seele darzustellen. Seine Theorien sind wertlos; die Unmittelbarkeit und Frische seiner Schilderungen machen den Wert des Buches aus. Bernardin hat die Sprache durch eine Fülle von Ausdrücken, die der klassi= schen Prosa fremd geblieben waren, bereichert, und der Reiz seiner Sprache wie seiner gefühlssatten Naturschilderungen hat auf die Zeitgenossen so unmittelbar gewirkt, daß er mit einem Schlage berühmt und ein Liebling der Gesellschaft wurde; besonders als im vierten Bande der ,,Studien“ (1788) die Erzählung „Paul et Virginie" erschien.

Dieser kleine Roman zeigt auf einer Insel des Indischen Ozeans zwei vom Schicksal heimgesuchte Frauen in einem abgelegenen Thale mit ihren Kindern Paul und Virginia. In Unschuld und ohne Ansprüche wachsen die Kinder im Schoße der Natur auf. Gerade als mit den Jahren ihre gegenseitige Zuneigung zur Liebe geworden ist, wird Virginia von ihrer Mutter nach Frankreich zu begüterten Verwandten geschickt, damit diese für die Zukunft des Mädchens sorgen. Virginia fühlt sich jedoch unglücklich in der vornehmen und üppigen Gesellschaft, die sie in ihrem Geburtsland umgibt. Sie kehrt nach der Insel zu ihrer Mutter und zu Paul zurück, die sie mit Entzücken und Ungeduld erwarten. Aber das Schiff, das Virginia bringt, scheitert auf der Reede, im Angesichte Pauls. Virginia hätte von einem Matrosen vom Wrack des Schiffes schwimmend gerettet werden können; aber sie konnte sich nicht entschließen, vorher ihre Kleider abzulegen: mit den Trümmern des Schiffes wird sie leblos ans Land gespült. Paul überlebt seinen Schmerz nicht lange. Ein hochbetagter Freund der Verstorbenen und Zeuge des Unglücks erzählt dem Dichter die ganze Begebenheit.

In dieser Südseegeschichte schildert Bernardin einen Traum menschlichen Glückes, der mit seinen Helden dahinstirbt, als die Ansprüche der Kultur und des Herkommens mit feindlicher Gewalt eingreifen. „Paul und Virginie“ ist eine Jdylle ohne klassische Erinnerungen und Umhüllungen; und während sonst die Idylle dadurch wahrscheinlich wurde, daß man die Handlung in zeitliche und örtliche Ferne rückte, ist sie hier auf einen wirklichen Schauplaß und in eine bestimmte, der Gegenwart nahe Zeit verlegt. Die Berührung mit den Verhältnissen der lebendigen Kulturwelt und ihren Forderungen bringt einen tragischen Konflikt hinein, und in diesem Konflikt ist zugleich die moralische Absicht des Dichters ausgesprochen. Der Mensch ist glücklich, solange er in Übereinstimmung mit der Natur und der Tugend lebt. Wenn die Schatten der Abgeschiedenen", sagt der Alte am Ende seines rührenden Berichtes,,,noch an dem, was hier

auf Erden vorgeht, teilnehmen, so irren sie sicherlich gern unter dem Strohdache umher, das die arbeitsame Tugend bewohnt, um die mit ihrem Lose unzufriedene Tugend zu trösten, um in den jungen Herzen eine dauernde Liebesglut, den Geschmack an den natürlichen Gütern, die Liebe zur Arbeit und die Furcht vor dem Reichtum zu nähren." Auch in der Vorrede sagt der Dichter, daß er beabsichtigt habe,,,mehrere bedeutende Wahrheiten der Überzeugung einzuprägen, unter anderen die, daß unser Glück in einem der Natur und der Tugend gemäßen Leben bestehe". Was ist aber Tugend?,,Tugend ist Selbstüberwindung für das Wohl anderer, mit der Absicht, nur Gott zu gefallen." So verbindet sich die Ausführung des poetischen Gedankens mit der sittlichen Tendenz und der Kritik der in der Kulturwelt heimischen Zustände. Es wird das Glück der Gleichheit gepriesen, die grausamen Vorurteile Europas werden verurteilt, es wird das Lob der Landwirtschaft gesungen, die natürliche Erziehung empfohlen und die Bildung mit Geringschäßung behandelt. Saint-Pierre widerspricht sich aber, wenn er in der Trostrede des Alten in die pessimistisch christliche Auffassung gerät, daß die Erde ein Jammerthal sei. Entschieden herrscht dabei der Gedanke vor, daß unsere Kultur die Erde zu diesem Jammerthal gemacht habe, nur verquicken sich bei Bernardin die Ideen der Aufklärung und der Empfindsamkeit mit christlichen, katholischen Anschauungen, die optimistische Auffassung des glücklichen Naturzustandes mit der pessimistischen, daß der Mensch zum Leiden geboren sei: ewig ist nur der glückliche Zustand im Jenseits; Marguerite, die Bäuerin, verscheidet mit den Worten: ,,Sterben ist das höchste Gut, Leben nur ein Kampf oder eine Strafe.“ Die jungfräuliche Virginie, die ihre Pflichten gegen die Lebenden über den strengsten Forderungen jungfräulicher Ehre vergißt, ist mehr eine katholische Heldin, mehr eine Märtyrerin als ein Naturkind. Troßdem hat die Idylle nichts Abgestandenes, weil die Erzählung, die Charaktere, die Schilderungen den Stempel der Wahrheit tragen, und weil in ihr eine Empfindung geweckt wird, die in der Brust jedes Gebildeten schlummert, jenes Gefühl, das den Sklaven der Kultur mit wehmütiger Sehnsucht erfüllt, wenn in ihm die Vorstellung eines freien und einfachen Lebens unter guten Menschen in schöner Naturumgebung lebendig wird. Durch die Übereinstimmung von Erzählung und Schilderung, von Schauplaß und Handlung hat Saint-Pierre diese Vorstellung verwirklicht, er hat die natürliche Landschaft in Beziehung zu den Menschen gesezt, sie menschlich beseelt. Selbst Rousseau, der Erwecker des Naturgefühls, hat im Vergleich mit Bernardin noch blasse, unbestimmte und zu allgemein gehaltene landschaftliche Gemälde geboten. Der glückliche Gedanke, seine Jdylle in eine tropische Umgebung zu verlegen, gestattete dem Dichter freilich, die Anwendung glühenderer Farben, stärkerer Effekte und zahlreicherer Einzelzüge zu wagen, als ihm bei Schilderung einer heimischen Landschaft damals zugestanden worden wäre.

Mit seinen späteren Erzählungen hatte Bernardin wenig Glück; besonders die Indische Hütte“ (la Chaumière indienne) war zu sehr Tendenzschrift und Satire auf die Kultur. Aber der litterarische Erfolg seiner ersten Jdylle brachte dem Dichter Ehren und Wohlstand. Als er nach dem Tode seiner ersten Frau als Dreiundsechzigjähriger aus dem bewundernden Kreise, der ihn umgab, ein junges Mädchen heimgeführt hatte, überließ er sich in der genußreichen Zurückgezogenheit zu Eragny an der Dise den Naturbetrachtungen, die in den,,Harmonien“ (Harmonies de la Nature, 1814, 3 Bände) niedergelegt sind. Sein begeisterter und dankbarer Schüler, Aimé-Martin, schrieb nach seinem Tode seine Biographie (1816), gab seine Werke heraus (Romans, contes, opuscules, 1834) und heiratete seine Witwe.

Fast gleichzeitig mit Saint-Pierre hat der Abbé Jean Jacques Barthélemy (1716 bis 1795) kurz vor Ausbruch der Revolution einen Erfolg davongetragen, der den von „Paul

Barthélemys Junger Anacharsis“.

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und Virginie“ fast erreichte. Er begleitete 1755 den französischen Gesandten Choiseul de Stainville nach Rom; fleißig sammelnd und von dem Bedürfnis durchdrungen, die antike Kultur in ihrer Gesamtheit zu erfassen, kam er, zugleich von Wielands Roman,,Agathon" beeinflußt, zu dem Entschluß, Griechenland von einem Skythen, der das Land in der Zeit Philipps von Makedonien aufsucht, schildern zu lassen. Nach langer, gründlicher Vorbereitung erschien,,Die Reise des jungen Anacharsis in Griechenland während der Mitte des vierten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung“ (Voyage du jeune Anacharsis en Grèce dans le milieu du quatrième siècle avant l'ère vulgaire, 1788, 7 Bände), kurz vor dem Zusammentritt der Generalstände und vor der Schrift des Abbé Siéyès über den dritten Stand. Barthélemy wünschte, daß sein Werk,still in die Welt hineinglitte", aber der gebildete junge Skythe machte in Paris ebensoviel von sich reden wie die lieblichen Kinder Paul und Virginie. Diese Reise war kein Roman, sondern eine Schilderung, in der die Gelehrsamkeit, das archäologische Wissen die schöpferische Einbildungskraft am Gängelbande führten. Alles, was man von den Sitten, Künsten, Gebräuchen und von der Geschichte der alten Griechen wissen konnte, war hier in der Form eines Reiseberichts dargestellt: das Verfahren, das Barthélemy anwandte, war gewissermaßen eine Umkehrung desjenigen Montesquieus in den,,Persischen Briefen“. Die Franzosen wußten es dem Abbé Dank, daß er die liebenswürdigen Athener ihnen so ähnlich geschildert hatte. Man dachte an Paris und seine Bewohner, wenn der Verfasser die Athener ein „bis zum Übermaß spottlustiges Volk" nennt, ihnen Bosheit, aber nur Bosheit aus Leichtfertigkeit, zuschreibt oder die,,Gefälligkeit ihres Benehmens“ rühmt.

Vielleicht kein Werk hat den Geschmack für das Altertum, der zu einer Mode wurde, so befördert und genährt wie das Buch Barthélemys. Das Griechentum ist hier insofern echt, als die Darstellung ein ungemein fleißig zusammengeseßtes Mosaik von einzelnen Nachrichten ist, die Barthélemy aus den von ihm selbst gründlich gelesenen griechischen Schriftstellern geschöpft hat. Aber die Verschiedenartigkeit der Einzelheiten ist durch die einförmige Gleichmäßigkeit der Schilderung ausgeglichen. Barthélemy wollte in seinem Buche nicht Montesquieu nachahmen. Jhm liegen die Analogien des griechischen Altertums mit den Sitten und dem Leben der „guten Gesellschaft“ seiner Zeit am Herzen. Er besißt kein besonderes Darstellungstalent. Er schreibt durchweg ansprechend, bisweilen gefühlvoll und warm, aber alles ist mehr ersonnen als innerlich erlebt und selbst geschaut.

5. Die didaktische, satirische und lyrische Dichtung.

Rousseau hatte das Naturevangelium nicht vergebens gepredigt; auch die Dichter gehen jezt aufs Land hinaus, betrachten die Natur mit gefühlvoller Teilnahme und fassen die poetischen Anschauungen und moralischen Lehren, die sie auf diese Weise gewinnen, in Alexandriner; es kommt eine Belehrung mit Unterhaltung vermischende beschreibende Naturdichtung auf. Die „Vier Jahreszeiten" (les Quatre Saisons, 1769) von Charles François de Saint-Lambert (1719-1803), dem einstigen Verehrer von Voltaires Freundin (vgl. S. 534), fanden in dem Kreise Diderots, dem der Dichter seit 1757 angehörte, viel Beifall, um so mehr, als hier nicht bloß der verständige Naturgenuß, sondern auch die Grundsäße philosophischer Aufklärung in Versen redeten. Den vollendeten klassischen Ausdruck erhielt aber diese Art von Poesie erst durch den Abbé Jacques Delille (1738-1813), den fruchtbaren Nachahmer Virgils.

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