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Tyrannei! Fünf Jahre einsamen Kerkers haben den sonst so klaren Geist verwirrt, daß er wie im Wahnsinn redet, ja er ist ein Wahnsinniger! Der von Folterqualen gebrocheue Körper eines solchen Opfers würde schon euer Mitleid erregen 5 und euern tiefsten Grimm gegen seine Peiniger: wie viel tieferes Mitleid weckt uns aber dieser von Folterqualen gebrochene und verwirrte Geist! Bürger! Sprecht euer Mitleid aus für meinen unglücklichen Freund in einem Fluch auf seine Kerkermeister und Folterknechte!"

Die theatralische Scene wirkte. Guillemain mit dem wild flatternden Haare, dem todtenbleichen Gesicht, den rollenden Augen, den gekrampften Händen sah in der That einem Wahnsinnigen ähnlich genug und sein vergeblicher Protest, daß nicht er verrückt sei, sondern höchstens sein mitleidiger 15 Freund, der ihn für verrückt erkläre, steigerte noch die naturwahre Täuschung des Eindruckes. Die anwesenden Franzosen zumal glaubten, der Mann sei wirklich wahnsinnig; denn der deutschen Sprache nur halb mächtig hatten sie die genügend klaren Reden Guillemains ohne dies nicht recht begriffen; 20 desto überzeugenderen Eindruck machte ihnen die Gruppe auf der Rednerbühne und die französischen Worte des Arztes. Die Deutschen dagegen waren froh, daß man den Unruhestifter mit so guter Manier für ihn und Andere unschädlich gemacht, sie umringten ihn und halfen dem Arzte, seinen zur 25 Unzeit wieder erstandenen Freund endlich mit heiler Haut aus dem Saale zu bringen.

Draußen überhäuften sich die Beiden noch eine Weile mit Vorwürfen: Kringel den Guillemain, weil er ihn so schändlich bloßgestellt, Guillemain den Kringel, weil er ihn öffent30 lich für verrückt erklärt habe.

Die Stille der kalten klaren Nacht mit ihrem wie zum

ewigen Frieden leuchtenden Sternenhimmel brachte Guillemain wieder zu ruhigeren Sinnen. Er schwieg und sammelte sich aufs Wiedersehen seines Vaters; der Arzt aber ließ ihn nicht eher los als bis sich die Thüre des elterlichen Hauses geöffnet hatte und stand noch eine Weile Schildwacht auf der Gaffe; 5 denn er fürchtete immer, sein Freund möge wieder in den Saal zurücklaufen und sich als nicht wahnsinnig ausweisen.

Der alte Guillemain erschrak, indem er den verwilderten Mann mit der großen Kokarde ins Zimmer treten sah; denn als ein schweigender Gegner der Revolution fürchtete er schon 10 lange mißhandelt oder aufgehoben zu werden. Als er aber in der verdächtigen Gestalt den Sohn erkannte, vergaß er alles Herzeleid, das er seinetwegen ausgestanden, und allen Widerwillen gegen die dreifarbige Kokarde und fiel ihm um den Hals und weinte und hatte nur noch ein Herz für den 15 wiedergefundenen Sohn.

Wie innig wohl that es Joseph, daß er nach so vielen Jahren zum erstenmale wieder rein menschlich von einer mit fühlenden Menschenseele, vom Vater, den er so tief betrübt, sich angesprochen fühlte. Er hatte dieses Wiedersehen oft gar 20 rührend sich ausgemalt und vorgeträumt; aber auch hier war die Erfüllung ganz anders als das Phantasiebild der Hoffnung: der selige Augenblick war unendlich rührender und schöner als er ihn je hatte vorempfinden können, und der altmodisch gesinnte Vater fragte ihn gar nicht, wie er denn schon 25 so geschwind zu der großen Kokarde gekommen und ob er auch gleich wieder ein Revolutionär neuen Styles geworden sei? Er sprach bis tief in die Nacht hinein als der Vater mit seinem Kinde und ließ es sich nicht einmal merken, wie schweren Kummer ihm dieses Kind gemacht.

Am andern Morgen griff Joseph Guillemain vor allen

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Dingen zum Nasiermesser und ließ sich das Haar schneiden und einen Zopf flechten. Er sagte: „Man hat mir verwehrt, meinen Namen in das schwarze Buch zu schreiben, so will ich denn in anderer Form öffentlich Zeugniß geben von meinem 5 ungebrochenen Freiheitsmuthe. Als alle Welt Zöpfe trug, schnitt ich den meinigen ab; jezt, wo die Zöpfe verpönt und mißachtet sind, kehre ich wieder zum Zopfe zurück. Der rechte Freiheitsmann handelt und duldet immer mit der Minderheit; denn bei der großen triumphirenden Masse ist und war die 10 Freiheit niemals."

Da man nun aber Herrn Guillemain über Nacht wohlfrisirt und mit einem Zopfe erscheinen sah, so gewann der Glaube, daß er verrückt geworden, auch unter den Deutschen in Mainz bedeutend an Festigkeit. In der That jedoch be15 kundete der Mann mit dem Zopfe seinen klaren Verstand vor Andern darin, daß er seine eigene Ohnmacht angesichts des Weltsturmes bald genug begriff, sich grollend in sich selbst zurückzog und Mainz zur rechten Stunde verließ, um erst wiederzukommen, als die Deutschen die Stadt zurückerobert 20 hatten.

Trotz aller Wechsel der Mode und der Politik trug er fortan feinen Zopf, nicht als den Zopf des Rückschrittes, sondern als den Zopf des Eigensinns. Unzufrieden mit jedem bestehenden Zustande, hegte und veredelte er zwar getreulich 25 sein Ideal einer besseren Zeit, allein niemals gelang es ihm dasselbe der gegebenen Weltlage anzupassen; es fehlten ihm eben fünf Jahre erlebter Geschichte, in welchen der Schlüssel für die ganze nächste Zukunft lag. Er kehrte zurück zum Epigramm, womit er begonnen; er blieb ein politischer Kopf und 30 obendrein ein Republikaner, aber er hatte kein Herz mehr für die thatsächliche Politik.

So blieb er auch in Gedanken ein Maler, aber er malte nicht mehr. Er redete oft von seinem neuesten Carton, dem Völkergerichte der Freiheit, doch nie entschloß er sich auch nur das Papier zum ersten Entwurf über den Holzrahmen ziehen zu lassen.

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Wie aber die erste Periode seines Lebens durch den unvollendeten Tod des Cäsar bezeichnet war, und die zweite durch das niemals begonnene jüngste Gericht, so hatte auch die dritte ihr neues symbolisches Kunstwerk gefunden. Er sprach nämlich viel von einem philosophisch-politischen Roman, 10 mit welchem er sich trage. Eine Schaar der wüthendsten Jakobiner, die beim Sturze der Schreckensherrschaft der Guillotine entrann, war nach Cayenne verbannt worden. Dorthin kommt nachgehends auch eine Anzahl später geächteter Royalisten. Zwei der entschiedensten Charaktere aus diesen 15 beiden Lagern begegnen sich in der mörderischen Fieber-Einöde, wo sie gemeinsam leben und arbeiten müssen. Der Jakobiner erfährt von dem Todfeinde, wie trotz des Sturzes seiner Gegner, den er gehofft und geweissagt, dennoch die rothe Republik nicht gesiegt hat; die Geschichte ist ihren eigenen Weg 20 gegangen, weitab von der Linie, welche er ihr im Geiste gezeichnet. Der Royalist hofft noch und entwirft kühne Bilder vom Wiedererstehen des Königthums und lebt in giftigem Zwiste mit dem bereits stumpf entsagenden Jakobiner. Als aber nun die Botschaft auch zu dem fernen Lande hinüber- 25 dringt, daß Napoleon den Stuhl seiner Kaiser-Despotie auf die Trümmer der Republik gestellt habe, da erkennt auch er, wie alle Traumbilder von künftiger Gestaltung der Völker und Staaten eitel und unwahr sind, und er reicht dem Jakobiner die Hand als dem einzigen Wesen, welches sich mit ihm 30 wenigstens bis aufs Blut zu zanken und also auch menschlich

R. N.

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mit ihm zu empfinden vermag, und Beide, die über der Politik vergessen hatten, daß sie Menschen waren, finden zulet Versöhnung und Sühne in menschlich brüderlichem Gemeinleben, ja sie einigen sich auch politisch wenigstens darin, daß 5 sie die ganze europäische Politik möglichst weit hinweg wünschen von dem Lande, wo der Pfeffer wächst; denn in diesem Lande lebten sie ja selbander.

Es war der tragische Roman seines eigenen Lebens, den Guillemain solchergestalt in fremder Scenerie sich auszudich10 ten unternahm.

Berühmter aber als durch dieses ungeschriebene Buch und die ungemalten Bilder war und blieb er durch seinen wirklich ausgeführten Zopf. Der wurde zum Sprüchwort in der ganzen Umgegend. Und wenn die Leute so manchmal wahr15 nahmen, daß ein Altliberaler, von dem man gehofft, er werde sich an die Spiße einer neuen Bewegung stellen, verstimmt in sich selbst zurückkroch, weil Alles anders gekommen, als er's erwartet hatte, dann achselzuckend und verneinend gegen die neuen Volksführer auftrat und zulezt gerade im Vollbewußt20 sein seines Freisinnes das Banner der alten Zeit ergriff so sagten sie: das ist der Zopf des Herrn Guillemain !

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