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DAS THEATER IN BERLIN.

ICH habe diesesmal nicht über ein Vierteljahr, sondern nur über einen Monat zu berichten, und gar noch über den magersten Theatermonat des Jahres, den August. Den Sommer über war die dramatische Muse in die Ferien gegangen, während sich auf den ihr geweihten Plätzen allerlei lockeres Volk umhertrieb: Possen-, Operretten- und Ballettgesindel. In Berlin sollte man sich nämlich in diesem Sommer ganz besonders gut amüsiren, so wollte es das Programm der Kunstunternehmer, und zu diesem Zweck, scheint es, bemüht man die dramatische Muse nicht gern. Berlin stand unter dem Zeichen der Gewerbe-Ausstellung, einer grossen gelungenen Ausstellung, würdig der Hauptstadt eines grossen und arbeitsamen Volkes; Schaaren von Fremden wurden erwartet. Aber man schlägt nicht mehr, wo die Völker zusammenströmen, die Schaubühne auf, auf der das Schicksal schreitet, sondern die Jahrmarktsbude. Das ist bei uns so, und anderwärts: es war nicht anders im Pariser Ausstellungssommer von 1889. Der Hauptstädter flieht im Sommer das Theater, und die nervöse Hast, die den Vergnügungsreisenden peinigt, treibt ihn zu den flüchtigsten Genüssen, zum Circus und zur Singspielhalle. Dann kommt die mit dem Stempel "made in England" versehene Ware zur rechten Zeit; "Charleys Tante " Thomas Brandonschen Andenkens war eine prachtvolle Sommerkomödie, die alle Gewürzkrämer von Memel bis Saarbrücken, die Berlin besuchen kamen, rasen machte. In diesem Jahre hat der internationale Manager Bolossy Kiralfy den Vogel abgeschossen; er brachte wieder von England eine ungeheure Ausstattungs-Pantomime hierher, für die er sich auf sechs Monate ein "Olympia-Riesentheater" baute und die

mit Hilfe von zweitausend Weiberbeinen in fleischfarbenen Tricots und beinahe ebensovielem Getier ein Stück "Orient" darzustellen vorgibt. Niemals ist dem Vergnügungshunger von den Brettern herab eine gröbere und verfälschtere Speise dargeboten worden.

Von unseren besseren Bühnen war das Lessing-Theater zuerst auf dem Plan. Es brachte im Monat August nicht weniger als drei neue Stücke heraus; doch ist diese Fruchtbarkeit, weit entferntein Beweis regen Lebens zu sein, im Gegenteil ein Beweis, dass das Theaterleben noch nicht begonnen hat. Auch das Lessing-Theater wünschte den Wind der Gewerbe-Ausstellung in seine Segel zu fangen, es bot dem fluktuirenden und leicht zu befriedigenden Augustpublikum einige Novitäten an, die es dem noch in der Sommerfrische weilenden kritischen und oft überkritischen Premièrenpublikum nicht zu bieten wagte. Wir sahen ein Lustspiel, wie es Komödianten z Erheiterung des Lachpöbels schreiben; wir sahen ein Schauspiel, wie es Dilettanten zur Linderung ihres schmerzhaften Dichterdranges -schreiben; wir sahen endlich ein Bauernstück, wie es geschickte Litteraten zur Eroberung möglichst vieler Bühnen schreiben. Das Verfassen von Amüsirkomödien ist in Deutschland ein traurigeres Geschäft als in England oder Frankreich. In England ist der Schwank auf das Niveau des Circus herabgesunken; man begnügt sich frohbescheiden mit Clownerien. In Frankreich ist der Schwank ein Spiel mit Combinationen and Permutationen, und oft ein scharfsinniges, zuweilen gar ein geistreiches und immer ein lustiges: gegeben sind drei oder vier Personen und drei oder vier Türen; zu lösen ist die Aufgabe, diese drei oder vier Personen so durch die gegebenen Türen hinaus und herein zu schieben, dass sich immer diejenigen treffen, die sich nicht treffen sollen, und niemals diejenigen, die sich treffen wollen. Anders in Deutschland. Unsere Schwänkemacher glauben eine höhere Idee nicht entbehren zu können, und wenn sie ganz furchtbar werden, dann appelliren sie ans gute Herz der Zuschauer und werden. sentimental. Das Lustspiel, das uns vorliegt, vermeidet, Gott sei Dank, diesen Gipfel alles Schrecklichen auf der Bühne; dagegen hat es seine höhere Idee: es ist die Frauenemanzipa

tion. "Fräulein Doctor" heisst das Lustspiel in vier Aufzügen von Oskar Walther und Leo Stein, und das "Fräulein Doctor," das dem Stück den Namen gibt, ist eine junge Dame aus Berlin, die in Zürich den juristischen Doctor gemacht hat und num in das Haus ihrer Eltern zurückgekehrt ist, um ihrem Vater die Prozesse zu führen. Das gelingt ihr recht schlecht, um so besser gelingt es ihr, einen Mann zu bekommen. Es ist eine besondere Art von Mann, wie das Fräulein eine besondere Art von Weib ist. Der Mann hält das gelehrte Fräulein für eine Närrin; das ist ihm Grund genug, sie zu lieben. Der Mann, selbst Jurist, erklärt die ganze Juristerei der jungen Dame für einen kindischen Zeitvertreib; das ist für die junge Dame Grund genug, den Mann zu lieben. Die junge Dame heiratet den Mann, und mit der Heirat sind alleemanzipatorischen Gelüste verflogen, das Studium vergessen. Das geht sehr schnell; immerhin kann man sich aus der blossen Inhaltsangabe doch keine Vorstellung von der Kläg-lichkeit dieser Art von Komödien machen. Eine aristopha-nische Komödie gegen das Frauenstudium könnte annähernd. dieselbe Fabel haben, und, wenn man den Namen des Aristophanes nicht unnützlich führen will, selbst eine flotte Posse imGenre des Bisson und Gondinet, mit der schalkhaften Frage als Pointe: ob ein dreijähriges Studium in Zürich notwendig ist, um auf den wichtigen Gang zum Standesamt vorzubereiten?-könnte noch eine feine Satire sein. Bei jeder näheren Betrachtung. sinkt aber der Wert solcher in der Schmink- und Coulissenluft geborenen Machwerke kaskadenartig von Stufe zu Stufe. Jede Art von litterarischer Satire bedarf einer persönlichen Weltanschauung oder doch wenigstens einer persönlichen Partei-nahme des Autors; dieses individuelle Fluidum ist das Blut,. das das Werk lebendig macht. Die Herren Walther und Stein. jedoch und die ganze grosse Schaar derer, die ihnen gleichen, haben keine persönliche Anschauung, keine persönliche Ueber-zeugung, keinen persönlichen Gedanken. Sie schreiben im. Namen der tiefsten, rettungslosen Philisterei, im Namen des bis zum Hals mit Vorurteilen, brutalen Antipathien und Hass gegen das Neue angefüllten Spiessbürgertums, im Namen der grossen Masse derer, denen sie Beifall und Tantièmen ablisten wollen. Doch würde man sie noch zu hoch einschätzen,.

*Wenn man sie für Kämpfer, für lustige; aber überzeugte Kämpfer für das Althergebrachte, Beschränkte und Banale hielte, jenen ehrlichen und erbitterten Fanatikern der Plattheit zugehörig, die von Iffland bis Adolf L'Arronge zahlreiche begabte Vertreter auf der deutschen Bühne gehabt haben und aus denen ein kluger Litterarhistoriker eine ziemlich continuirliche Psychologie des deutschen Spiessbürgertums ablesen könnte. Selbst auf dieser Stufe nisten noch nicht die Herren Walther und Stein und ihresgleichen; man muss sie noch tiefer suchen; dort sind sie zu finden, wo jedes innere Interesse aufhört und allein die Jonglerie mit den Effekten der Coulissenreisserei übrig bleibt. Den Herren Walther und Stein

ist im Grunde auch die Philisterei mit ihren heiligen Ueberzeugungen gleichgiltig, sie interessirt nur die possenhafte Situation. Darum geben sie sich auch nicht die geringste Mühe, das Recht des Spiessbürgertums zu beweisen oder das Unrecht der studirenden Frau ersichtlich zu machen. Es genügt ihnen, über die studirte Frau brutal zu lachen; sie haben damit dem Vorurteil im Parkett Genüge getan; im übrigen ist ihre Charakteristik der Personen sehr einfach die Juristin begeht mit jedem Wort und jeder Handlung eine eklatante Dummheit; der Jurist, ihr Partner, bezeugt mit jedem Wort und jeder Handlung eine übermenschliche Weisheit. Das führt dazu, dass die Autoren wider Willen beinahe einen. mephistophelischen Witz machen: man könnte glauben, sie wollen zeigen, dass man drei Jahre Jura studiren muss, um so fabelhaft dumm in den einfachsten juristischen Fragen zu werden, die jedem Spiessbürger im Parkett ohne weiteres klar sind und über die er sich ausschütten möchte vor Lachen. Nur leider sind die Autoren an diesem Witz ganz unschuldig, wie an allen übrigen; die einen bringt ihnen die innere Unvernunft ihrer Machwerke unfreiwillig, die anderen die Theaterschablone, die sie als Schauspieler kennen, freiwillig

herbei.

Uebrigens interessiren uns die belanglosen Herren Walther und Stein nicht als Einzelpersonen; sie interessiren uns lediglich als zufällige Beispiele für eine Gattung, die leider in Deutschland ziemlich zahlreich ist, eine Gattung, die die Bühnen überschwemmt und in ihrer wässerigen Hochflut

manches Echte und Ernsthafte erstickt. Auf französischen Bühnen ist dieser Typus in seiner Nacktheit kaum zu finden ; dagegen hat die englische Bühne zahlreiche Beispiele gleicher Rasse, ja hier sinken sie, dem nationalen Zuge zur burlesken Pantomime folgend, zu dem Typus von "Charleys Tante" herab.

Kürzer kann ich mich über die zweite Augustkomödie fassen Der Typus, den dieses Schauspiel in 4 Aufzügen, betitelt “Das neue Genie" von Wilhelm Henzen, repräsentirt, ist zwar nicht weniger bedauerlich, nicht weniger psychologisch interessant und zweifellos verbreiteter, als der vorige, aber er führt meist ein verborgenes Dasein, abseits von den Bühnen, das traurige Dasein der Buchdramen. Es ist der Typus des idealistisch und moralisch sich geberdenden Dilettantismus. Was diesen Dramen vor allem verhängnisvoll wird, das ist die klägliche Ohnmacht, den technischen Anforderungen der Bühne gerecht zu werden. Der Fortgang dieser Stücke macht den Eindruck, als ob jemand mit zusammengebundenen Füssen ginge. Der qualvollen Umständlichkeit, womit die Scenen aus einander entwickelt werden, ist selten ein Publikum im 19. Jahrhundert gewachsen ; sie wird manchmal staunenerregend und unerhört. Alles übrige dagegen ist in diesen Stücken nur zu oft gesehen und gehört; da wird mit fremden Gedanken gedacht, mit fremden Gefühlen Rührung gemacht, mit fremden Gestalten operirt ; und zwar, was echte Dilettantenart ist, immer grell: der geschickte Nachempfinder, der Schriftsteller, der sich anlehnt, dämpft, variirt, verwischt; der Dilettant outrirt. Da findet man denn die fabelhaft edlen Mädchen und die fabelhaft teuflischen Circen, die unerhört schwachherzigen Genies. und die unerhört cynischen Ausbeuter, und über alles das Spülicht von braven Ueberzeugungen ausgegossen, die den friedlichen Staatsbürger und Familienvater ehren und das Publikum mit einem jähen Tode von Langeweile bedrohen. Herrn Henzens neues Genie ist ein junger Musiker, der ein wirkliches Genie ist, so lange er in seiner thüringischen Abgeschiedenheit lebt unter Ackerbürgern und den Vöglein des Waldes und seine Phantasie nährt von den süssen Augen und der Kohlsuppe, die sein blondes Gänseliesel

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