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GN 479 .K18

1984-234

Vorwort

Die erste Reihe der ,,Forschungen über gleichgeschlechtliche Liebe" soll die Darstellung des gleichgeschlechtlichen Lebens aller, lebenden wie ausgestorbenen, Völker der Erde in zwei Gruppen mit zusammen fünf Bänden enthalten. Die erste Hauptgruppe, die beschränktere Zahl der Naturvölker umfassend, findet in einem Bande Platz, während für für die zweite Hauptgruppe, die große Schar der Kulturvölker bildend, vier Bände vorgesehen werden mußten. Die gewaltige Masse des homoerotischen Stoffes erheischte eine Scheidung der Kulturvölker entweder nach Völkern der Halb- und Völkern der Vollkultur oder aber nach größern ethnologischen Beziehungen. Bei dieser Auswahl glaubte der Verfasser sich für die Einteilung nach Rassen entscheiden zu sollen, weil die Gruppierung nach Völkern der Halb- und Vollkultur ihm zu sehr gekünstelt und auch kaum streng durchführbar erschien, bei der gewählten dagegen eine einigermaßen befriedigende Darstellung in vier ziemlich gleich starken Bänden ihm möglich dünkte. Derart würden die mongo loïden Kulturvölker mit dem zweiten Bande, die Hamiten und Semiten mit dem dritten, die arischen Völker endlich mit zwei Bänden, dem vierten und fünften Bande, die ethnologische Reihe erschöpfen*).

*) Von den Mongoloïden erschien bereits 1906 eine in sich abgeschlossene Lieferung,,Die Ostasiaten: Chinesen, Japaner und Koreer". Doch wurde mit dem Ableben des früheren Verlegers der,,Forschungen über gleichgeschlechtliche Liebe" und dem Übergang des Unternehmens in eine andere Hand von der weitern Ausgabe von Einzellieferungen Abstand genommen.

Alle Erscheinungen des gleichgeschlechtlichen Lebens der Völker werden ohne alle Schwierigkeit, wenigstens ebenso leicht als die des gemischt-geschlechtlichen, durch die einfache Erwägung verständlich, daß sie, wie diese, entweder aus innerlichem, freier Entscheidung gänzlich entzogenem, instinktartigem und mehr oder weniger unwiderstehlichem eingeborenem Drange hervorgehen oder aber äußeren Einflüssen, z. B. dem Mangel an anderer Gelegenheit, der Not, dem sozialen Elend, der Gewinnsucht, dem Reiz der Schönheit, der Verführung, der Gutmütigkeit, der Neugier, der Abenteuerlust, dem Nachahmungtrieb geschlechtlichem Leichtsinn oder geschlechtlicher Gleichgültigkeit ihren Ursprung verdanken.

Die Erscheinungen der erstern Art dürften im Leben der Völker wohl immer und überall annähernd die gleiche Verbreitung aufweisen, wennschon eine Einwirkung von Rasse, Klima und Lebensgewohnheiten auf die physischen Bedingungen gleichgeschlechtlichen Dranges nicht von vornherein als ausgeschlossen zu gelten braucht. Die Erscheinungen der zweiten Art kommen hier, streng genommen, gar nicht in Betracht; sie werden mit Recht als,, Selbstbefriedigung zu Zweien“ gekennzeichnet und haben mit der gleichgeschlechtlichen Liebe nichts als die äußere Form gemein. Aber eben infolge dieser Übereinstimmung in der äußeren Form läßt sich eine Trennung nicht wohl durchführen und es bleibt keine andere Möglichkeit, als beide Arten gleichgeschlechtlicher Erscheinungen unterschiedlos als zusammengehörig darzustellen. Naturgemäß kann die zweite Art der Erscheinungen je nach den kulturellen, sittlichen, religiösen, wirtschaftlichen und sonstigen Zuständen der verschiedenen Völkerrassen erheblichen Schwankungen unterworfen sein. Und wenn wirklich zwischen den verschiedenen Ländern und Kulturbereichen in der Häufigkeit gleichgeschlechtlicher Betätigung ein so auffallender Unterschied obwalten sollte, wie es nach der Darstellung der meisten Schriftsteller den Anschein gewinnen kann, so liegt hier der natürliche Schlüssel zur Erklärung. Übrigens sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß dieser große Unterschied vielfach, wenn nicht stets, auf Schein beruht oder doch mindestens ungleich

geringer ist als er dem Beobachter zunächst vorkommen mag. Denn einerseits herrscht bei den gedachten Schriftstellern, welche ohne Einsicht in das Wesen der gleichgeschlechtlichen Liebe und voller Vorurteile an die Betrachtung der einschlägigen Zustände herantraten, unverkennbar die Neigung zu psychologisch leicht begreiflicher grober Übertreibung; andererseits verwechselten sie einmal die Offenheit, mit der sich gleichgeschlechtliches Leben entfalten darf, und einmal die scheue Verborgenheit, zu welcher es unter dem Druck ihm feindlicher Gewalten gezwungen wird, mit der Verbreitung dieses gleichgeschlechtlichen Lebens selbst.

Der Leitgedanke der,,Forschungen über gleichgeschlechtliche Liebe" ist auch der Leitgedanke der Schilderung des gleichgeschlechtlichen Lebens der Völker. Päderastie und Tribadie werden als Wirkungen des Geschlechtstriebes weder als,,Laster“ noch als ,,Verbrechen" aufgefaßt, sondern als überall und allezeit vorkommende natürliche Erscheinungen, welche weder Geringschätzung, noch verachtungvolles Totschweigen, noch gesellschaftliche Ächtung, am wenigsten aber brutale Verfolgung durch ein freiheitfeindliches Gesetz, das sie doch höchstens ins Dunkel zu drängen vermag, verdienen. Daher können sie bei den einzelnen Völkern und Rassen auch nicht ihrem eigentlichen Wesen nach verschieden sein, sondern lediglich in der charakteristischen Form ihres Auftretens, im Darum und Daran, entsprechend den Gesamtanlagen der betreffenden Völker und Rassen, Verschiedenheiten aufweisen - Verschiedenheiten von freilich hohem ethnologischen Interesse für jeden Forscher und hohem psychologischen Interesse für jeden vorurteillosen Wahrheit- und Menschenfreund.

Berlin im November 1911

F. Karsch,

Dr. phil. Titelar-Professor, Privatdozent für Zoologie

an der Universität in Berlin.

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