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§ 1.

Der neutestamentliche Canon.

Der neutestamentliche Canon ist die vorzugsweise aus der apostolischen Tradition der Kirche hervorgegangene, durch die sichtende Kritik der Kirche bereinigte, mit der Recension der Texte abgeschlossene Auswahl derjenigen Bestandtheile der urchristlichen Literatur, welche nach dem übereinstimmenden Glaubens-Urtheile der ältesten Kirche

a) die treuesten Urkunden des Urchristenthums darstellen,

b) den höchsten Massstab für die Glaubenslehre der Kirche bilden und

c) zum ausschliesslichen Gebrauch in den kirchlichen

Gottesdiensten dienen sollten.

Wie der alttestamentliche Canon ein Werk der jüdischen Synagoge, so war der neutestamentliche Canon das Werk der christlichen Kirche. Aber wie der Inhalt der alttestamentlichen Schriften hoch über der Synagoge stand, so steht auch heute noch der Inhalt des neutestamentlichen Schriftthums hoch über der Kirche, als ihr Leitstern, der sie durch die Jahrhunderte sicher führt. Mit dem Inhalt des neutestamentlichen Schriftthums haben wir es jedoch hier, wo vom Canon die Rede ist, nicht zu thun. Denn der Canon stellt einen formalen Begriff dar, bei dem es sich um Sichtung des Gegebenen, um Anordnung der getroffenen Auswahl und zuletzt um endgiltige Feststellung des Wortlautes handelt. Zwar greift diese sichtende, ordnende und recensierende Thätigkeit, welche die Kirche bei Feststellung des Canons an dem neutestamentlichen Schriftthum geübt hat, an vielen Stellen in das Materiale hinüber. Aber das findet doch nur insoweit statt, als man überhaupt Form und Inhalt Texte u. Untersuchungen X.

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niemals völlig von einander scheiden kann. Thatsächlich wiegt bei der Frage nach dem Canon die formale Betrachtungsweise bei Weitem vor. Und ebendeshalb kann das neutestamentliche Schriftthum, welches inhaltlich hoch über der Kirche steht, nach seiner formalen Zusammenfassung, Anordnung und Ausgestaltung als ein Werk der Kirche bezeichnet werden.

Der Canon als Canon ist mithin nach seiner Entstehung, Zusammensetzung und Textgestaltung ein Kirchenbuch. Wie der Kirche das Recht und die Pflicht zusteht, durch kirchliche Bekenntnisse, durch Kirchenordnungen, Liturgien, Agenden, Perikopen-Ordnungen und andere Einrichtungen die Bedürfnisse der Gemeinden zu befriedigen, die Einheit des kirchlichen Lebens zu wahren, drohender Unordnung zu steuern und so dem Selbsterhaltungstriebe der Kirche zum Siege zu verhelfen, so hat die Kirche dieses Recht und solche Pflicht bei der Schöpfung des Canons in höchster Potenz geübt. Der neutestamentliche Canon ist das reife Produkt der kirchlichen Tradition, zugleich der früheste Flügelschlag der historischen Kritik, die im Kampfe mit der Haeresie geschmiedete Waffenrüstuug der Kirche zu ihrer Selbstvertheidigung, die in den innerkirchlichen Kämpfen bewährte Norm der Kirche für ihre Selbstbesinnung, das unvergängliche Zeugniss von der Fürsorge der Kirche für ihre Glieder, der aus der Vergangenheit herüberragenden Fürsorge für die kommenden Geschlechter bis an das Ende der Tage.

Noch heute ist daher der neutestamentliche Canon die Hauptgrundlage der kirchlichen Wissenschaft, der Theologie, nämlich a) der unverrückbare Orientierungspunkt für die historische Theologie,

b) die tiefste Quelle für die dogmatische Theologie,
c) der unversiegbare Jungbrunnen für die praktische

Theologie.

Zwar ist es grundlegend der Inhalt, welcher den Schriften des neutestamentlichen Canons eine so hohe und einzigartige Bedeutung verleiht. Aber dennoch ist es abschliessend erst die Zusammenstellung der einzelnen Bestandtheile zu einem harmonisch geordneten Ganzen, wodurch Kirche und Theologie einen so festen Mittelpunkt gewonnen hat. Man denke sich nur den neutestamentlichen Canon als solchen hinweg und seine einzelnen Bestandtheile zerstreut: wie zerfahren würde bei einem solchen

Zustand die Theologie sich entwickelt haben, wie unsicher der Gang der Kirche geworden sein. Als die wichtigste Schöpfung der Kirche ist daher der Canon als solcher auch mit der höchsten Würde kirchlicher Autorität umgeben. Aber trotz dieser hohen Würde bleibt der Canon ein Objekt der Kritik. Denn wie er als ein Werk der Kirche aus der Vermählung ältester Tradition mit den ersten Regungen wissenschaftlicher Kritik hervorgegangen ist, so steht auch der Kirche nicht blos das unverjährbare Recht, sondern auch die mit ihrem innersten Selbstbewusstsein verknüpfte Pflicht zu, durch die kirchliche Wissenschaft, die Theologie, an dieser ihrer eigensten Schöpfung eine fortgesetzte Kritik zu üben.

Die erste Epoche canonischer Kritik fällt mit der Canonbildung selbst zusammen. Da das erste geschichtliche Motiv zur Bildung des neutestamentlichen Canons in dem praktischen Bedürfniss der kirchlichen Vorlesungen gegeben war und da auf diesem Gebiete der Zweck kirchlicher Erbauung eine strenge Ausscheidung minderwerthigen Schriftgutes nicht nötig machte wie denn auch heute noch die Apokryphen des Alten Testaments von dem kirchlichen Gebrauche zum Zwecke der Erbauung nicht ausgeschlossen sind, so konnte es kommen, dass auch solche Bestandtheile der urchristlichen Literatur, welche vor einer späteren reiferen Beurtheilung nicht Stand hielten, längere Zeit als kirchliche Vorlesebücher benutzt und dem in Bildung begriffenen Canon einverleibt wurden. Schriften, welche in den späteren Jahrhunderten der Verachtung und der Vergessenheit anheim fielen, haben im zweiten und dritten Jahrhundert eine viel allgemeinere Anerkennung als heilige Offenbarungsurkunden und als kirchliche Vorlesebücher genossen und einen viel grösseren Einfluss auf die kirchliche Denkweise und die christliche Sitte ausgeübt, als der Hebräerbrief, der Brief des Jacobus und der zweite Petrusbrief" , so dass ihre Geschichte ein in ziemlich hellem Lichte stehendes Stück der im Übrigen so dunkelen Geschichte des Canons bildet" 1). Selbstverständlich konnte in dieser Periode von einem fertigen Canon nicht die Rede sein. Denn zum Abschluss der Canonbildung gehörte gerade der definitive Ausschluss solcher literarischen Produkte, welche

1) Zahn, Geschichte des Kanons I, 2. S. 326 f.

vor dem reiferen Urtheile der Kirche nach Ursprung und Inhalt nicht zu bestehen vermochten. Mithin erst die ausscheidende Kritik der Kirche, welche solche minderwerthige Produkte der altchristlichen Literatur aus dem sich bildenden Canon, in den sie eingedrungen waren, wieder entfernte, hat die neutestamentliche Canonbildung im vierten Jahrhunderte zu ihrer Ruhe kommen lassen.

Eine zweite Epoche canonisch-kirchlicher Kritik brach mit dem Reformationszeitalter an, als das mit einer seit den Tagen der Apostel nicht gesehenen Mächtigkeit hervorbrechende Selbstbewusstsein der Kirche eben mit Hilfe des Canons, ohne welchen die Reformation undenkbar, unmöglich gewesen wäre, aus den tiefsten Quellen der kirchlichen Tradition sich verjüngte und erneuerte. Insbesondere legitimierte sich Luther als den eigentlichen Träger des kirchlichen Selbstbewusstseins dadurch, dass er Tradition und Kritik, wie in Betreff der kirchlichen Lebensfragen überhaupt, so insbesondere in Bezug auf den neutestamentlichen Canon in einer Weise mit einander vermählte, welche sich als echt katholisch und zugleich als wahrhaft reformatorisch documentierte. Allerdings ist dieses Verhältniss des lutherischen Reformationswerkes zur Tradition und zur Kritik nicht zum klaren begrifflichen Ausdruck gelangt. Aber indem die lutherische Reformation von der kirchlichen Überlieferung und von den historisch gewordenen Einrichtungen der Kirche nur dasjenige beseitigte, was dem Canon der Schrift direkt widersprach, erkannte sie thatsächlich die Tradition, aus deren Mutterschoss ja auch der Canon hervorgerufen worden war, als das Allgemeinere, Höhere an, nur selbstverständlich mit der Bestimmung, dass die ältere Tradition der jüngeren voranging, sowie - was noch wichtiger war, dass die schriftliche, zumal also die im Canon fixirte, Tradition der flüssigen, unsicheren mündlichen Tradition zum Correktive dienen sollte. Damit war aber zugleich das Prinzip der Kritik gegeben, einer Kritik, welcher auch der Canon selbst, als Produkt kirchlicher Tradition und kirchlicher Kritik, von Neuem unterworfen werden musste. Eben die Rückkehr zur altkirchlichen Kritik führte im Verein mit seiner dogmatischen Feinfühligkeit den Reformator zu einer entscheidenden Neugestaltung des neutestamentlichen Canons durch Ausschluss des Hebräerbriefes, des Jacobus- und

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