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§ 4.

Die Quellen der aussercanonischen bzw. vorcanonischen Evangelientexte.

Es entsteht nun die Frage: Welches sind die Quellen, aus denen eine möglichst vollständige Sammlung der aussercanonischen, d. h. nicht recensierten, Evangelientexte gewonnen werden. kann? Diese im Vorhergehenden bereits mehrfach gestreifte Frage bedarf einer selbstständigen und übersichtlichen Beantwortung. Und zwar handelt es sich hier noch nicht um die Frage nach der möglichen letzten Quelle, sondern um eine übersichtliche Darstellung der nächsten literärischen Quellen, aus denen die vorcanonischen, bzw. aussercanonischen Evangelientexte zu gewinnen sind. Es kommen dabei folgende in Betracht: A. Der griechische Codex Bezae.

B. Die altitalischen Evangelien-Versionen.

C. Die altorientalischen, besonders syrischen
Evangelien-Versionen.

D. Das Diatessaron Tatians.

E. Die patristischen Evangeliencitate.

F.

G.

Die neutestamentlichen Apokryphen und
Pseudepigraphen.

Die altkirchlichen Liturgien.

An der Spitze, dieser Quellen steht, als der einzige griechische Codex derart,

A. Der Codex Cantabrigiensis.

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Die instruktivste Untersuchung über diese einzigartige Evangelienquelle verdanken wir Credner. Und da dessen Darlegung in der jüngsten von Cambridge ausgegangenen Studie über den Codex Bezae nicht einmal Erwähnung, geschweige denn eingehende Berücksichtigung, gefunden hat und auch sonst nicht nach Gebühr gewürdigt worden zu sein scheint, so sei es mir gestattet, die Crednersche Anschauung über diesen Codex (nach den Beiträgen zur Einleitung in die biblischen Schriften I. S. 452-518) in ihren Grundzügen zu reproducieren.

Credner unterscheidet drei Entwickelungsstufen in der Geschichte dieses merkwürdigen Codex.

Die erste Stufe, die Entstehung dieses Codex, verlegt Credner in das zweite Jahrhundert, ohne jedoch eine nähere Zeitbestimmung zu geben. Der Codex entstand nach ihm in den Händen ebionitischer (antichiliastischer) Judenchristen, wahrscheinlich in Palaestina, umfasste die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die katholischen Briefe und war lediglich in griechischer Sprache verfasst. Dabei nimmt Credner zwei Handschriften, welche er A. und B. nennt, als Quellen an und bezeichnet die eine Quelle bald als eine „unbekannte Autorität“, bald als ein „apokryphes Evangelium". Schon diese älteste Textgestalt des Codex Bezae zeichnete sich durch viele Freiheiten in der Behandlung der Texte (namentlich des Lucasevangeliums und der Apostelgeschichte) und durch zahlreiche Glossen aus.

Das zweite erkennbare Stadium in der Entwickelung der Cambridger Handschrift verlegt Credner in die Zeit um das Jahr 500. Noch sind es nach seiner Anschauung ebenfalls dieselben judenchristlichen Kreise, in denen die Handschrift als Kirchenbuch conserviert worden ist. Dieselben hatten sich aber inzwischen den katholischen Anschauungen genähert und hielten. es für zweckmässig, ihrem Kirchenexemplare eine ähnliche Einrichtung zu geben, wie die von Euthalius (um 480) ausgegangene war. Für möglich hält es Credner, dass zwischen der Entstehung der Handschrift im zweiten Jahrhundert und dieser Neugestaltung derselben am Ende des fünften Jahrhunderts noch eine Zwischenstufe der Entwickelung stattgefunden habe, die sich jedoch nicht mehr ermitteln lasse. Auch schliesst er die Annahme, dass bereits bei der Umarbeitung des Codex ums Jahr 500 die lateinische Übersetzung dem griechischen Urtexte beigefügt worden sei, nicht gänzlich aus, ohne sich jedoch für diese Annahme zu entscheiden. Dagegen seien die kirchlichen άvayváguata damals durch Randbemerkungen kenntlich gemacht worden, darunter 26 Lesestücke am Sabbath (лɛì тov saßßátov), welche den fortgesetzt judenchristlichen Charakter der Handschrift deutlich bekunden und, da diese liturgischen Randbemerkungen nur zur Seite des griechischen Textes sich befinden und in griechischer Sprache abgefasst sind, es nicht wahrscheinlich machen, dass schon damals der lateinische Text beigefügt worden sei. Wohl aber erhielt die Handschrift damals ihre stichometrische Anordnung, in welcher sie noch jetzt erhalten ist.

Die jetzige Gestalt empfing der Codex Bezae im dritten und letzten Stadium seiner Entwickelung, wie Credner annimmt, am Ausgang des sechsten oder am Anfang des siebenten Jahrhunderts, und zwar im südlichen Gallien, wohin ein orientalischer Judenchrist die Handschrift gebracht habe. Einem im Schönschreiben geübten Schreiber wurde hier der griechische stichometrische Text diktiert und von demselben mit vielen sinnentstellenden Fehlern nachgeschrieben. Die liturgischen Randbemerkungen, welche durch den fortgesetzten Gebrauch des früheren Kirchenexemplars defekt geworden waren, wurden in ihrer verstümmelten Gestalt 1) der neuen Handschrift von einer andern Hand einverleibt. Eine lateinische Übersetzung, eine ängstliche, fast wörtliche, Nachbildung des griechischen Textes, die sich aber von den sinnentstellenden Fehlern der griechischen Nachschrift frei hält, wurde beigefügt. So entstand die Handschrift D (griechisch) und d (lateinisch), während die Textgestalt aus der Zeit um 500 von Credner mit C bezeichnet wird.

So in allgemeinen Umrissen die von Credner vorgenommene Construktion der Textgeschichte, welche der Codex Bezae voraussetzt. Die lehrreiche Begründung im Einzelnen mag man bei Credner selbst nachlesen.

Der Hauptmangel der Crednerschen Untersuchung aber ist in der Nichtberücksichtigung der Trabanten des Codex Bezae zu erkennen, durch deren Vergleichung man zu dem Ergebniss gelangt, dass in dem griechischen Codex Cantabrigiensis, den altlateinischen Versionen und den altorientalischen Übersetzungen, voran der altsyrischen, eine einheitliche Text familie vorliegt, welche als solche ebenso sehr durch Abweichung von den recensierten canonischen Texten, als durch vielfache Übereinstimmung mit den patristischen Textcitaten aus dem zweiten und dritten Jahrhundert sich kennzeichnet. Diese von Credner nicht gewürdigte Thatsache ist von Westcott und Hort in ihren Untersuchungen über die neutestamentlichen Texte ans Licht ge

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stellt worden. Diese Kritiker haben die Vermuthung ausgesprochen, dass die von ihnen mit der Bezeichnung,Western text" belegte Textfamilie in Nordwestsyrien oder Kleinasien ihren Ursprung habe und frühzeitig nach Rom gebracht worden sei, von wo aus dieselbe nach den verschiedenen europäischen Ländern sowie nach Nordafrika sich verbreitet habe. Von Nordwestsyrien aus sei dieselbe durch Palästina und Ägypten bis nach Äthiopien vorgedrungen.

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Einen anderen Weg sucht die neueste Studie der Cambridger Schriftforschung zu bahnen. J. Rendel Harris (A Study of Codex Bezae Texts and Studies ed. Robinson. II, 1. Cambridge 1891) nimmt an, dass der Codex Bezae, welcher bereits vor Tatian, ja vor Marcion entstanden sei, von Haus aus den Evangelientext in beiden Sprachen, der griechischen und lateinischen, dargeboten habe, und dass der lateinische Text die eigentliche Quelle für den griechischen Text des Codex sei, dass man also dem letzteren nur eine secundäre Bedeutung beizumessen habe. Die bilinguale Handschrift, welche dem Codex in seiner jetzigen Gestalt zu Grunde liege, sei in Rom entstanden. Dabei habe man jedoch nicht Ursache anzunehmen, dass die lateinische Übersetzung der Evangelien, welche jedenfalls früher entstanden sei, dieselbe Geburtsstätte mit der Übersetzung der Apostelgeschichte gehabt habe. Diese Untersuchungen von Harris, welche allerdings noch nicht vollständig veröffentlicht sind, gründen sich auf eine minutiöse Textvergleichung, wodurch die Abhängigkeit des griechischen Textes und zahlreiche Latinismen des letzteren in Folge seiner Abhängigkeit von dem lateinischen Texte dargethan sind. Sollten die Untersuchungsresultate, welche Harris gewonnen zu haben glaubt, sich bewahrheiten, so würde die mit dem Codex Bezae verwandte Textfamilie ihren Ursprung im westlichen Rom genommen haben und in der That den Namen Western text" vollkommen verdienen.

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Aber so interessant und so anregend diese von Harris angestellten Untersuchungen sind, so sehr scheinen sie mir an einer grossen Einseitigkeit zu leiden, insofern der (in seiner Bedeutung überschätzte) lateinische Text des Codex zum einzigen Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht ist und insofern alle anderen Instanzen lediglich von diesem Gesichtswinkel aus be

trachtet oder auch völlig ignoriert werden, wie letzteres den scharfsichtigen Darlegungen Credners ergangen ist. Nichts ist natürlicher, als dass der lateinische Text auf den nebenstehenden griechischen Text zurückgewirkt hat. Aber wenn man die zahlreichen Beispiele derart, welche Harris beibringt, genauer prüft, so zeigt sich dieser Einfluss des lateinischen Textes doch vorzugsweise nur in untergeordneten linguistischen und grammatikalischen Punkten und erweist sich durchaus nicht als ausreichend, um die tiefer greifenden Eigenthümlichkeiten des griechischen Textes zu erklären. Aber selbst in untergeordneten Varianten kann die Unabhängigkeit des griechischen Textes von der lateinischen Version in vielen Fällen überzeugend nachgewiesen werden. Wenn z. B. im griechischen Texte des Codex D folgende Varianten uns entgegentreten:

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so kann der lateinische Text, welcher sich solchen Varianten gegenüber völlig indifferent verhält, nimmermehr die Quelle derselben sein. Dass der griechische Text vielmehr in solchen Fällen unabhängig von dem lateinischen ist, ersieht man z. B. aus Lc. 11, 6, wo die lateinische Übersetzung in d: supervenit die Variante: άoεotiv in D auf keine Weise erklärt. Dass der griechische Text mit seinen Eigenthümlichkeiten vielfach auf ältere griechische Quellen zurückgeht, zeigt ein eclatanter Fall, der in Lc. 9, 57 vorliegt. Wie in Mt. 25. 10 Cod. D. vлάyɛ

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