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Judasbriefes, des zweiten Petrusbriefes und der Apokalypse von dem Canon im engeren Sinne und durch eine auch in der äusseren Anordnung sichtbare Degradation dieser Schriften zu deuterocanonischen oder wie es Chemnitz auch ausgedrückt

hat

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zu apokryphischen Schriften des Neuen Testaments, in der Weise, dass dieselben zwar für den praktischen Kirchengebrauch nach wie vor fortbestanden, aber für die dogmatische Arbeit der Kirche als norma normans nicht mehr dienen sollten. Es war ein verhängnissvoller Schritt, dass die Kirche, die in Luthers Bahnen wandelte, gerade in dieser Position von ihm und seinen grössten Nachfolgern - Chemnitz und Gerhard sich lossagte und in die beengenden Fesseln des radicalen von praedestinatianischen Grundgedanken getragenen, die geschichtliche Entwickelung ignorierenden reformierten Canonbegriffes sich schlagen liess. Denn dadurch ist die lutherische Kirche, anstatt die von Luther gegebenen Keime biblischer Kritik in positiver Weise fortzubilden, in ihrer genuinen Entwickelung aufgehalten und zur Stagnation verurtheilt, schliesslich aber in den Selbstauflösungsprocess reformierten Kirchenthums mit hineingezogen worden. Denn der unlebendige Begriff vom Canon, welcher in der reformierten Kirche zur Herrschaft gelangte, der einerseits alle Wurzeln der Tradition, aus welcher doch der Canon hervorgewachsen war, ausriss und nur den wurzellosen Stamm eben den Canon übrig liess, der andererseits alle Kritik unmöglich machen sollte, musste mit Nothwendigkeit den Rückschlag einer zügellosen, bis ins Fantastische ausartenden, destruktiven Bibelkritik herbeiführen, welche gerade in den reformierten Kirchengebieten (Schweiz, Holland, reformierte Kreise Frankreichs) ihre bedenklichen Triumphe feiert und welche, wie irgend etwas, die vom Romanismus erhoffte Selbstzersetzung des Protestantismus als greifbare Gefahr in drohende Nähe gerückt hat.

Dem gegenüber ist es die deutsche Theologie gewesen, welche langsam zwar, aber doch mit fortschreitender Selbstbesinnung, eine positive Lösung der kritischen Fragen in die Hand genommen und dabei besonders denjenigen Punkt des Canons ins Auge gefasst hat, an welchem die lutherische Reformation das Meiste, ja Alles noch zu thun übrig gelassen hatte. Dieser Punkt, welcher zugleich der Hauptpunkt für die historische

Werthung des Canons überhaupt bildet, ist die Erforschung der Evangelien sowohl in ihrem Verhältniss unter einander als in ihrem Verhältniss zu dem übrigen neutestamentlichen Schriftthum. Die Evangelien repräsentieren diejenige schriftliche Tradition, welche unmittelbar auf Jesum zurückzugehen beansprucht. Sie stellen aber zugleich ein so compliciertes Verhältniss gegenseitiger Verwandtschaft und unzählbarer Verschiedenheiten in der Überlieferung der historischen Stoffe dar, dass Jeder, welcher in das damit gegebene Problem tiefer hineinzuschauen gelernt hat, wird bekennen müssen: an der Spitze des neutestamentlichen Canons steht das interessanteste, schwierigste, grösste Problem jeglicher Kritik, welches ganz geeignet ist, die Kirche vor dem Versinken in den Stand der Kritiklosigkeit zu bewahren.

Bei einem reformierten Theologen der Reformationszeit, bei Theodor von Beza, hätte es gelegen, die Evangelienfrage schon damals in Fluss zu bringen, als ihm aus dem Kloster S. Irenaei ein Evangelien-Codex in die Hände gelegt ward, dessen Inhalt an vielen Stellen von den canonischen Texten weit abweicht, dessen Textgestalt nach ihren Ursprüngen aus dem zweiten Jahrhundert stammend uns die grossen Veränderungen ahnen lässt, welche mit den Evangelien vorgegangen sind, bevor der Abschluss der neutestamentlichen Canonbildung erfolgte. Aber der reformierte Theologe consignierte das in seinen Augen gefährliche Document in der Universitätsbibliothek zu Cambridge, wo es als Codex Bezae oder Codex Cantabrigiensis zwei Jahrhunderte lang fast völlig unbenützt ruhte. Die Zeit war noch nicht reif.

Da war es ein deutscher Theologe, der ehrwürdige Storr, das Haupt der älteren Tübinger Schule, welcher das Ende des Ariadnefadens fand, der uns in das Labyrinth der Evangelienforschung führen sollte. Die heute fast allgemein anerkannte Priorität des Marcusevangeliums unter den canonischen Evangelien ist Storrs Entdeckung. Und wieder war es ein Tübinger Theologe, welcher die Grösse des mit der Evangelienfrage verknüpften Problems erst enthüllte und durch die von ihm angestrebte Lösung des Problems eine geschichtliche Betrachtung der canonischen Schriften in Fluss brachte. Ferd. Chr. Baur, das Haupt der jüngeren Tübinger Schule, hat die Verwandt

schaft der canonischen Evangelien mit den neutestamentlichen Lehrschriften als das Hauptproblem der den Canon betreffenden Forschungen herausgestellt und damit zum ersten Male eine historische Betrachtungsweise der Evangelien und ihrer Genesis angebahnt, - ein Verdienst, welches ihm bleibt, obgleich die Lösung des Problems als einseitig und seine Geschichtsconstruktion des Urchristenthums als verfehlt bezeichnet werden muss.

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Eine intensive Arbeit auf dem Gebiete der canonischen Kritik überhaupt und bezüglich der Evangelienkritik insbesondere ist in dem zu Ende gehenden Jahrhundert von der deutschen Theologie gethan worden, - eine Arbeit, die schon manches positive Resultat zu Tage gefördert und in der Entdeckung einer vorcanonischen Evangelien-Quellenschrift ihren schönsten Lohn gefunden hat. Freilich haben sich auch viele Unberufene in diese Arbeit eingedrängt viele, welche die Mahnung nicht beachteten: Ziehe deine Schuhe aus; denn hier ist ein heiliges Land. Viele von diesen Kritikern waren von dem Selbstbewusstsein der Kirche nicht getragen und von der Grösse der Verantwortlichkeit nicht durchdrungen. Ja manche Federn dieser Kritiker waren wie einst die Feder des Heiden Celsus in die ätzende Tinte des Christushasses und des Kirchenhasses tief eingetaucht. Aber es musste auch dieses Ärgerniss kommen; es war mit der dritten grossen Epoche canonischer Kritik unauflöslich verknüpft. Gemäss dem historischen Charakter unserer Zeit musste die theologische Forschung an demjenigen Punkte anlangen, welcher bei der Canonbildung der erste massgebende Gesichtspunkt hätte sein sollen, welcher aber bei dem mehr praktischen Bedürfniss der Urkirche nur eine unbewusst naive Berücksichtigung gefunden hat, nämlich die Feststellung und Werthung der Evangelien als historischer Urkunden, welche uns die tiefsten Ursprünge des Christenthums enthüllen sollen. Wäre ein ausgeprägtes historisches Interesse in der Urkirche bei der Bildung des Evangeliencanons massgebend gewesen, so würde die wichtigste historische Urkunde des Urchristenthums, jene vorcanonische Evangelien-Quellenschrift, nimmermehr verloren gegangen sein.

Unsrer Zeit sind die Mittel gegeben, manches Dunkel auf diesem Gebiete zu lichten, manches Versäumte nachzuholen. Die

Gesetze der literarischen Kritik sind bekannt; die Handschriften der Evangelien sind gesichtet; die patristische und apokryphische Literatur ist aufgeschlossen; manche wichtige Funde sind geschehen; die neutestamentliche Zeitgeschichte ist erfolgreich bearbeitet.

Aber dennoch haftet an einem ganz besonders wichtigen Punkte der bisherigen Evangelienforschung, welche sich sonst so kühn über die canonischen Grenzen hinwegzuschwingen liebt, ein verhängnissvoller Mangel, der um so mehr in Erstaunen setzen muss, als gerade an diesem Punkte das letzte, das späteste Stadium der Canonbildung sich fixiert und dabei zugleich in den materiellen Inhalt des Canons eingegriffen hat. Das letzte Stadium der Canonbildung ist die Fixierung der canonischen Texte gewesen, welche gerade bei den Evangelientexten manches Originale verwischt hat. Und gerade diese einer verhältnissmässig späten Zeit angehörigen canonischen Evangelientexte hat man mit wenigen Ausnahmen zum Ausgangspunkt und zum Objekt der Evangelienforschung gemacht, während man die ausser canonischen, bezw. vorcanonischen Evangelientexte vorzugsweise nur als Curiositäten hat gelten lassen.

Dieser Punkt bildet aber ein so wichtiges Capitel, dass demselben eine besondere Betrachtung im Folgenden gewidmet werden soll, dessen Vorbedingung jedoch ein Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Evangeliencanons ist.

§ 2.

Der Evangeliencanon.

Entsprechend der Entwickelung des Gesammtcanons Neuen Testamentes zeigt auch der älteste Hauptbestandtheil desselben drei Epochen:

erste Epoche:

Zusammenstellung der traditionellen Evangelienschriften zu einem viertheiligen Evangelien

canon;

zweite Epoche: Durchdringen dieses viertheiligen Evangeliencanons zur alleinigen und ausschliesslichen Geltung in der Kirche;

dritte Epoche: Fixierung und endgiltige Bereinigung der canonischen Evangelientexte.

Die vier nachmals in den Canon aufgenommenen Evangelienschriften haben sicherlich schon längst vor Beginn der Canonbildung neben der mündlichen Evangelientradition den Hauptinhalt der schriftlichen Evangelienüberlieferung, sowie auch den wichtigsten Bestandtheil der gottesdienstlichen Vorlesungen innerhalb der Urkirche gebildet. Denn nicht nur Justin berichtet, dass die ἀπομνημονεύματα τῶν ἀποστόλων— ἃ καλεῖται εὐαγγέλια - an den Sonntagen in den christlichen Gottesdiensten verlesen wurden (avayivooxɛται vgl. Apol. I, 67. 66), sondern auch aus den Ausdrücken der Διδαχή: ὡς ἔχετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ (Διδ. XV, 3. 4), geht mit Bestimmtheit hervor, dass man sich schon viel früher in dem katechetischen Gemeindeunterricht auf das εvayyέlov als eine wohlbekannte schriftliche Autorität berufen durfte, welche nicht anders als eben durch kirchliche Vorlesung den Gemeinden vertraut geworden sein konnte, wobei zu beachten, dass weder in der Audaxý noch bei Justin von Vorlesung apostolischer Lehrschriften die Rede ist. (Wohl aber erwähnt Justin neben den Evangelien die Schriften der Propheten, die zur Vorlesung gelangten.) Es ist nun doch so viel klar, dass, wenn eine Sammlung, ein Canon von Evangelien, sich bildete, dieselbe aus denjenigen Evangelienschriften zusammengesetzt werden musste, welche auf Grund der kirchlichen Tradition schon längst den Gemeinden bekannt und bei den gottesdienstlichen Vorlesungen in Gebrauch waren.

Für diese Voraussetzung findet man dann auch volle Bestätigung, wenn man auf die einzelnen vier Schriften hinblickt, welche im Evangeliencanon zu einer geschlossenen Einheit verbunden worden sind.

Besonders ist es das johanneische Evangelium, dessen frühzeitiger gottesdienstlicher Gebrauch in überraschender Weise nachgewiesen werden kann. Nämlich die uralten eucharistischen Gebete, welche uns in der 41dax enthalten sind, setzen für diejenigen kirchlichen Kreise, aus denen der Verfasser dieser Schrift sie entnommen hat, durch die Fülle von Anklängen an das johanneische Evangelium dessen Einfluss auf die altkirchliche Liturgie in einer Zeit voraus, welche noch vor der Ab

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