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[In den Texten bedeutet gesperrter Satz die identischen Texte, gleichwerthige Textvarianten,

Mehrbestandtheile.]

aussercanonische

Einleitung.

§ 1.

Die älteste Bezeugung des εὐαγγέλιον κατὰ Ματθαῖον.

Die äussere Bezeugung desjenigen Evangeliums, welches im neutestamentlichen Canon die erste Stelle einnimmt, führt uns in eine sehr frühe, aber auch noch wenig aufgehellte Periode der christlichen Kirchengeschichte. Es ist nämlich das ɛvayyέλιον κατὰ Ματθαῖον mit der ältesten Gestaltung des Judenchristenthums auf das Engste verflochten.

1. Das Zeugniss durch Cerinth und Karpokrates. Der Haeresiologe Epiphanius, welcher bezüglich der judenchristlichen Haeresie aus den ältesten und besten Quellen schöpfte, schrieb folgendermassen:

Epiph. Haer. XXX, 14 p. 138 D.

ὁ μὲν γὰρ Κήρινθος καὶ Καρποκρᾶς τῷ αὐτῷ χρώμενοι δῆθεν παρ' αὐτοῖς εὐαγγελίῳ ἀπὸ τῆς ἀρχῆς τοῦ κατὰ Ματθαῖον Εὐαγγελίου διὰ τῆς γενεαλογίας βούλονται παριστῶν ἐκ σπέρματος Ἰωσὴφ και Μαρίας εἶναι τὸν Χριστόν.

Epiphanius oder sein Gewährsmann redet im Zusammenhang von dem bei den Ebioniten gebräuchlichen Evangelium und bezeugt kurz vorher (§ 13) die wesentliche Identität des Ebionitenevangeliums mit dem εὐαγγέλιον κατὰ Ματθαῖον, nur dass letzteres nicht mehr vollständig (οὐχ ὅλῳ δὲ πληρεστάτῳ), sondern unter den Händen der Ebioniten verfälscht (νενοθευμένῳ) und verstümmelt (ἠκρωτηριασμένῳ) worden sei. Er gibt dann aus dem Contexte des Ebionitenevangeliums Beispiele, aus denen man ersehen könne, wie hinkend (πως πάντα χωλά), Texte u. Untersuchungen X, 2.

1

wie schief (λοξά) und wie unrichtig (καὶ οὐδεμίαν ὀρθότητα zovτa) Alles geworden sei (§ 14 initio). Und indem er nun fortfährt zu bezeugen, dass schon die ältesten Häupter des Ebionitismus, Cerinth (in Kleinasien) und Karpokrates (in Aegypten) dasselbe Evangelium gebraucht haben (to auto xoμενοι δῆθεν παρ' αὐτοῖς εὐαγγελίῳ, constatiert er einen tief eingreifenden Unterschied zwischen jenen Häuptern des Ebionitismus und ihren Nachfolgern bezüglich des Gebrauchs jener Evangelienschrift.

Jene Häupter (ὁ μὲν γὰρ Κήρινθος καὶ Καρποκρᾶς) besassen noch das Matthäusevangelium mit der Genealogie und suchten gerade mittels dieser Genealogie ihre ebionitische Lehre von der Geburt Jesu aus Joseph und Maria zu erweisen (άлò τῆς ἀρχῆς τοῦ κατὰ Ματθαῖον εὐαγγελίου διὰ τῆς γενεαλογίας βούλονται παριστᾶν ἐκ σπέρματος Ἰωσὴφ καὶ Μαρίας εἶναι τὸν XQuoτóv). Also war ihr Matthäusevangelium wenigstens am Anfang bezüglich der Genealogie noch nicht verstümmelt. Diese aber, ihre Nachfolger, die Ebioniten (ovτoi de so fährt der Bericht fort) halfen sich auf andere Weise, indem sie zur Begründung ihrer judenchristlichen Christologie einfach die Genealogie abschnitten und den Anfang ihres Evangeliums mit Mt. 3, 1 geschehen liessen: οὗτοι δὲ ἄλλα τινὰ διανοοῦνται. παρακόψαντες γὰρ τὰς παρὰ τῷ Ματθαίῳ γενεαλογίας ἄρχονται τὴν ἀρχὴν ποιεῖσθαι ὡς προείπομεν. Die ursprüngliche Identität zwischen unserem Matthäusevangelium und dem Hebräerevangelium (Εβραϊκὸν δὲ τοῦτο καλοῦσιν scheint hier bezeugt

zu sein.

Für dieses Identitätsverhältniss und für die Thatsache, dass die bei den ältesten Judenchristen im Gebrauch gewesene Evangelienschrift promiscue mit zwei verschiedenen Namen: εὐαγγέλιον κατὰ Ματθαῖον und εὐαγγέλιον καθ ̓ Ἑβραίους (oder Tò Eßoaïzóv) bezeichnet zu werden pflegte, besitzen wir noch folgende patristische Zeugnisse:

Iren. III, 11, 7. Ebionaei etenim eo evangelio, quod est secundum Matthaeum, solo utentes, ex illo ipso convincuntur, non recte praesumentes de Domino.

Iren. I, 26, 2. Solo autem eo, quod est secundum Matthaeum, evangelio utuntur (sc. Ebionaei) et apostolum Paulum recusant, apostatam eum legis dicentes.

Eus. H. E. III, 27, 4. (Εβιωναίοι) εὐαγγελίῳ δὲ μόνῳ τῷ καθ ̓ Ἑβραίους λεγομένῳ χρώμενοι τῶν λοιπῶν σμικρὸν ἐποιοῦντο λόγον.

Theodoret. Haer. Fab. II, 1. μόνον δὲ τὸ κατὰ Ἐβιωναίους εὐαγγέλιον δέχονται. ibid. εὐαγγελίῳ δὲ τῷ κατὰ Ματθαῖον κέχρηνται μόνῳ.

Epiph. Epitome Haer. XXX. Tom. I. p. 359 ed. Dindorf. déxovtaι δὲ τὸ κατὰ Ματθαῖον εὐαγγέλιον κατὰ Ἑβραίους αὐτὸ καλοῦντες.

Epiph. Haer. XXX, 3. p. 127 C. καὶ δέχονται μὲν καὶ αὐτοὶ τὸ κατὰ Ματθαῖον εὐαγγέλιον. τούτῳ γὰρ καὶ αὐτοί, ὡς οἱ κατὰ Κήρινθον καὶ Μήρινθον χρῶνται μόνῳ. και λοῦσι δὲ αὐτὸ κατὰ Ἑβραίους.

Sichtlich gehen alle diese Nachrichten - wie schon ihr fast gleicher Wortlaut an die Hand gibt - auf eine gemeinsame ältere Quelle zurück. Dies ergibt sich auch aus folgender Erwägung. Da zu den Zeiten des Irenaeus und vollends zu denen des Eusebius, Epiphanius und Theodoretus die Identität zwischen dem Matthäusevangelium und Hebräerevangelium schon längst nicht mehr bestand, so wiederholen diese Schriftsteller den Wortlaut einer älteren Nachricht, die sie wie aus ihren sonstigen unklaren Zuthaten erkennbar ist selbst nicht mehr verstanden.

Aber es wird Manche geben, die diese Beweisführung nicht zugestehen und die ursprüngliche Identität unseres Matthäusevangeliums und des Hebräerevangeliums nicht anerkennen wollen - obwohl dann das Dilemma entsteht, dass die Ebioniten ausschliesslich (μóvop, solo) das Matthäusevangelium und zugleich ausschliesslich (uóvop, solo) das Hebräerevangelium gebraucht haben sollen. Indess ist diese Frage auch nicht der Hauptpunkt, auf den es hier ankommt. Was hier bewiesen. werden sollte, ist die unzweifelhafte Existenz des evayуéliov xarà Mardatov schon vor Cerinth und vor Karpokrates, sowie der massgebende Einfluss dieses evayyéziov auf die früheste Entwickelung des Judenchristenthums. Abgesehen also von der Frage, in welchem Verhältniss das εὐαγγέλιον κατὰ Ματθαῖον zu dem εὐαγγέλιον καθ ̓ Ἑβραίους gestanden habe, sind Karpokrates (in den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts)

und Cerinth1) (Zeitgenosse des Apostels Johannes) die ältesten Zeugen für das Vorhandensein des εὐαγγέλιον κατὰ Ματθαῖον und für dessen enges Verhältniss zum ältesten Judenchristenthum.

In wie weit die innere Kritik und die textliche Analyse dieser Evangelienschrift etwa zu der Anschauung berechtige, in derselben die älteste Urkunde des Judenchristenthums zu erblicken, das soll im Schlusshefte dieses Werkes einer zusammenfassenden Erörterung unterzogen werden.

2. Der Evangeliencanon als Zeuge.

Nach dieser mit der Entwickelung des ältesten Judenchristenthums eng verknüpften Vorgeschichte des εὐαγγέλιον κατὰ Ματdatov wirkt die Thatsache um so überraschender, diese Schrift nicht nur in den um 140 n. Chr. entstandenen Evangeliencanon2) aufgenommen, sondern auch an dessen Spitze gestellt zu sehen

eine Thatsache, welche im Zusammenhang mit den patristischen Zeugnissen für die ursprüngliche Identität des εὐαγγέλιον κατὰ Mardatov und xad' Eßoaiovs nach ihrer Tragweite von der wissenschaftlichen Forschung bisher noch nicht genügend gewürdigt sein dürfte. Auch da, wo die Stellung der drei anderen Evangelisten wechselt, behauptet das εὐαγγέλιον κατὰ Ματθαῖον den ersten Platz. Namentlich die altsyrische Version Curetons, die altlateinischen Evangeliencodices und der griechische Codex Bezae vertreten einheitlich die Voranstellung unserer Evangelienschrift. Es geht daraus klar hervor, dass auch der Archetypus dieser drei unter einander so eng verwandten Evangelienrecensionen, der ursprüngliche Evangeliencanon, das εὐαγγέλιον κατὰ ΜατDatov an seiner Spitze gehabt hat.

3. Tatians Diatessaron.

Der nächste Zeuge für das εὐαγγέλιον κατὰ Ματθαῖον ist Tatian, welcher in seinem um die Jahre 160-170 n. Chr. verfassten Diatessaron den vierfältigen Evangeliencanon voraussetzt und in seinen Texten, soweit sie uns erkennbar sind, ganz deutlich die dem ersten canonischen Evangelium entnommenen Stoffe reproduciert.

1) Man vgl. noch Philastr. c. 36. (Cerinthus) evangelium secundum Matthaeum solum accipit, tria evangelia spernit.

2) Vgl. Heft I, 11.

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