Page images
PDF
EPUB

II. Die Schriftgelehrten und ihre Thätigkeit im

Allgemeinen.

Literatur:

Ursinus, Antiquitates Hebraicae scholastico-academicae. Hafniae 1702 (anch in Ugolini's Thesaurus t. XXI).

Hartmann, Die enge Verbindung des Alten Testaments mit dem Neuen (1831) S. 384-413.

Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils I (1838), S. 109-214.

Winer RWB. II, 425-428 (Art. Schriftgelehrte).

Jost, Das geschichtliche Verhältniss der Rabbinen zu ihren Gemeinden (Zeitschr. für die historische Theologie 1850, S. 351-377).

Levy sohn, Einiges über die hebräischen und aramäischen Benennungen für Schule, Schüler und Lehrer (Frankel's Monatsschr. für Gesch. und Wissensch. des Judenth. 1858, S. 384-389).

Leyrer, Art. „Schriftgelehrte" in Herzog's Real-Enc. 1. Aufl. Bd. XIII (1860),

S. 731-741.

Klöpper, Art. Schriftgelehrte" in Schenkel's Bibellexikon Bd. V, S. 247-255. Ginsburg, Art. „Scribes" in Kitto's Cyclopaedia of Biblical Literature. Plumptre, Art. „Scribes" in Smith's Dictionary of the Bible.

Weber, System der altsynagogalen palästinischen Theologie (1880) S. 121-143. Hamburger, Real-Encyclopädie für Bibel und Talmud, Abth. II (1883), Art.: Gelehrter, Lehrhaus, Rabban, Schüler, Sopherim, Talmudlehrer, Talmudschulen, Unterhalt, Unterricht.

Strack, Art. Schriftgelehrte" in Herzog's Real-Enc. 2. Aufl. XIII (1884) S. 696-698.

Mit dem Dasein eines Gesetzes ergiebt sich von selbst auch die Nothwendigkeit gelehrten Studiums und fachmännischer Kenntniss desselben. Wenigstens tritt dieses Bedürfniss in dem Masse ein, als das Gesetz ein umfangreiches und complicirtes ist. Die Kenntniss des Details, die Sicherheit in der Anwendung seiner einzelnen Bestimmungen auf das alltägliche Leben kann dann nur durch berufsmässige Beschäftigung erworben werden. Zur Zeit Esra's und wohl auch noch längere Zeit nachher war dies nun vorwiegend Sache der Priester. Esra selbst war ja beides zugleich: Priester und Gelehrter (). Im Interesse des priesterlichen Cultus ist der wichtigste Bestandtheil des Pentateuches, der Priestercodex, geschrieben. Priester waren darum auch zunächst die Kenner und Wächter des Gesetzes. Allmählich wurde dies aber anders. Je höher das Gesetz in der Werthschätzung des Volkes stieg, desto mehr wurde das Studium und die Auslegung desselben eine selbständige Aufgabe für sich. Es war ja das Gesetz Gottes.

An seiner Kenntniss und Befolgung hing für Jedermann aus dem

[ocr errors]

Volke ganz dasselbe Interesse, wie für die Priester. So bemächtigten sich mehr und mehr auch nicht-priesterliche Israeliten der gelehrten Beschäftigung mit dem Gesetz. Neben den Priestern bildete sich ein selbständiger Stand von Schriftgelehrten", d. h. von berufsmässigen Kennern des Gesetzes. Und als in der Zeit des Hellenismus die Priester wenigstens in ihren höheren Schichten sich vielfach der heidnischen Bildung zuwandten und das väterliche Gesetz mehr oder weniger vernachlässigten, traten die Schriftgelehrten sogar in einen relativen Gegensatz zu den Priestern. Nicht mehr die Priester sondern die Schriftgelehrten waren jetzt die eifrigen Hüter des Gesetzes. Sie waren darum von nun an auch die eigentlichen Lehrer des Volkes, welche dessen geistiges Leben vollständig beherrschten.

In der Zeit des Neuen Testamentes finden wir diesen Process schon völlig abgeschlossen vor: die Schriftgelehrten bilden einen festgeschlossenen Stand, welcher im unbestrittenen Besitze der geistigen Herrschaft über das Volk ist. Sie heissen im Neuen Testamente gewöhnlich roaμuateis, d. h. „Schriftkundige“, „Gelehrte“, entsprechend dem hebr. po, was an sich auch nichts anderes als homines literati bedeutet (Männer, die sich berufsmässig mit dem Schriftwesen beschäftigen) 18). Dass ihre gelehrte Beschäftigung vorwiegend dem Gesetze galt, verstand sich dabei von selbst. Neben dieser allgemeinen Bezeichnung findet sich auch die speciellere voμικοί uzoi d. h. Gesetzeskundige", „Rechtsgelehrte" (Mt. 22, 35. Luc. 7, 30. 10, 25. 11, 45 f. 52. 14, 3) 19); und sofern sie das Gesetz nicht nur kannten, sondern auch lehrten, heissen sie vouodidácxa201, Gesetzeslehrer (Luc. 5, 17. Act. 5, 34). Josephus nennt sie лα

18) ist jeder, der sich berufsmässig mit dem Buchwesen beschäftigt, 2. B. auch ein Schreiber (Schabbath XII, 5. Nedarim IX, 2. Gittin III, 1. VII, 2. VIII, 8. IX, 8. Baba mezia V, 11. Sanhedrin IV, 3. V, 5), oder ein Buchbinder (Pesachim III, 1). Ueber den Gebrauch im Alten Testamente 8. Gesenius Thesaurus p. 966. Wenn es im Talmud heisst, dass die Schriftgelehrten deshalb hiessen, weil sie die Buchstaben der Thora zählten (Kidduschin 30 bei Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien 1878, S. 13. 179), so ist dies natürlich nur eine werthlose etymologische Spielerei.

-

19) vouzós ist in der späteren Gräcität der eigentlich technische Ausdruck für Rechtsgelehrter juris peritus. So namentlich auch von den römischen Juristen, Strabo p. 539: oi nagà Рopalois voμizoi, auch im Edictum Diocletiani, s. Rudorff, Römische Rechtsgeschichte II, 54. Es ist nicht zufällig, dass dieser Ausdruck gerade bei Lucas sich häufig findet. Er will dadurch das Wesen der jüdischen Schriftgelehrten seinen römischen Lesern dentlichen.

ver

τρίων ἐξηγηταὶ νόμων 20), oder in gracisirender Weise σοφισταί 21). auch iɛgo7oouuatɛiç 22). In der Mischna wird der Ausdruck 770 nur von den Schriftgelehrten der früheren Zeit gebraucht, welche für das Zeitalter der Mischna selbst schon eine Autorität sind 23). Die zeitgenössischen Gelehrten heissen in der Mischna immer

[ocr errors]

Das ausserordentliche Ansehen, dessen diese Gelehrten von Seite des Volkes genossen, prägt sich schon aus in den Ehrentiteln, die sie sich geben liessen. Am gewöhnlichsten war die Anrede "27 „mein Herr", griech. ¿aßßí (Matth. 23, 7 und sonst) 24). Aus dieser ehrfurchtsvollen Anrede hat sich dann allmählich der Titel „Rabbi gebildet, indem bei dem häufigen Gebrauch der Anrede das Suffixum seine Pronominal-Bedeutung verlor und auch ausser der Anrede geradezu als Titel gebraucht wurde (Rabbi Josua, Rabbi Elieser, Rabbi Akiba) 25). Vor der Zeit Christi ist dieser Gebrauch noch

20) Antt. XVII, 6, 2. Vgl. XVIII, 3, 5.

21) Bell. Jud. I, 33, 2. II, 17, 8. 9.

22) Bell. Jud. VI, 5, 3.

23) So Orla

Sanhedrin XI, 3.

[ocr errors]

III, 9. Jebamoth II, 4. IX, 3 (Sota IX, 15). Kelim XIII, 7. Para XI, 4-6. Tohoroth IV, 7. 11. Tebul jom IV, 6. Jadajim III, 2. An allen diesen Stellen (mit Ausnahme der nicht zum ursprünglichen Mischnatext gehörigen Stelle in Sota IX, 15) ist von Verordnungen der Schriftgelehrten (7) im Unterschied von den Satzungen der Thora die Rede, und zwar so, dass auch erstere als längst in Geltung befindliche vorausgesetzt werden. Abgesehen von diesen Stellen kommt der Ausdruck nur noch in dem oben Anm. 18 angegebenen Sinne in der Mischna vor. Dagegen im Schmone Esre, in der 13. Beracha, wird gebetet, dass Gott sein Erbarmen walten lassen möge über die Gerechten und Frommen und Aeltesten Israels und über den Rest der Schriftgelehrten“ (rub D), welch' letztere demnach noch als vorhanden vorausgesetzt werden. Das griech. yoaμuarsis findet sich noch auf jüdischen Grabschriften in Rom in der späteren Kaiserzeit (2.-4. Jahrh. n. Chr.), s. Garrucci, Cimitero degli antichi Ebrei scoperto recentemente in Vigna Randanini (1862) p. 42. 46. 47. 54. 55. 59. 61. Garrucci, Dissertazioni archeologiche vol. II (1865) p. 165 n. 20. 21. p. 182 n. 21.

[ocr errors]

24) heisst einfach „Herr“, z. B. im Gegensatz zum Sklaven (Sukka II, 9. Gittin IV, 4. 5. Edujoth I, 13. Aboth I, 3). Die Anredemein Herr findet sich in der Mischna z. B. Pesachim VI, 2. Rosch haschana II, 9 fin. Nedarim IX, 5. Baba kamma VIII, 6. Auch c. Suff. Plural. = ,unser Herr Berachoth II, 5-7. Da das Prädicat den Schriftgelehrten in ihrer Eigenschaft als Lehrmeister ertheilt wurde, so hat allmählich auch den Sinn von Lehrer erhalten. So, wie es scheint, schon in einem dem Josua ben Perachja zugeschriebenen Ausspruch, Aboth I, 6. Im Zeitalter der Mischna ist diese Bedeutung jedenfalls ganz gewöhnlich, s. Rosch haschana II, 9 fin. Buba mezia II, 11. Edujoth I, 3. VIII, 7. Aboth IV, 12. Kerithoth Vgl. Er. Joh. 1, 39.

[ocr errors]

VI, 9 fin. Jadajim IV, 3 fin.

25) Aehnlich wie Monsieur. Vgl. über den Rabbi-Titel überhaupt: Seruppii Dissert. de titulo Rabbi (in Ugolini's Thesaurus T. XXI). Lightfoot

nicht nachweisbar. Hillel und Schammai heissen nie Rabbi; auch im Neuen Testamente findet sich gaßßi nur als eigentliche Anrede. Erst ungefähr seit der Zeit Christi scheint der Titel in Gebrauch gekommen zu sein. — Eine Steigerungsform von ist 17 oder, wie das Wort auch ausgesprochen wurde, 7. Die erstere Form scheint mehr dem hebräischen, die letztere mehr dem aramäischen Sprachgebrauch anzugehören 26). Daher findet sich in der Mischna als Titel von vier hervorragenden Schriftgelehrten aus dem Zeitalter der Mischna um 30-150 nach Chr.)27), im Neuen Testamente dagegen ¿aßßovri oder a c. Suff) als ehrfurchtsvolle Anrede an Christum (Marc. 10, 51. Joh. 20, 16) 25). Im Griechischen des Neuen Testamentes wird Rabbi durch zúque (Mt. 8, 2. 6. 8. 21. 25 und oft) oder didάoza2ɛ (Mt. 8, 19 und oft), von Lucas auch durch iлioτάτα (Luc.

[ocr errors]

und Wetstein zu Mt. 23, 7. Buxtorf, De abbreviaturis hebraicis p. 172–177. Carpzov, Apparatus historico-criticus p. 137 sqq. Winer RWB. II, 296 f. Pressel in Herzog's Real-Enc. 1. Aufl. XII, 471 f. Grätz, Gesch. der Juden IV, 431. Ewald, Gesch. des Volkes Israel V, 25. 305. Steiner in Schenkel's Bibellex. V, 29 f. Riehm's Wörterb. s. v. Hamburger Real-Enc. Abth. II Art. Rabban". Die Lexika zum Neuen Testamente s. v. daßßl.

26) In den Targumen kommen beide Formen vor (s. Buxtorf, Lex. Chald. 8. v. Levy, Chald. Wörterb. s. v.), im Hebräischen dagegen fast nur Für die Form 7 ist mir in der Mischna nur eine Belegstelle bekannt: Taawith III, 8, wo es in Bezug auf Gott gebraucht wird. Ueber die Bedeutung von sagt Aruch (s. v. **8, s. die Stelle z. B. bei Buxtorf, De abbreviaturis p. 176): 1 Höher als Rab ist Rabbi und höher als Rabbi ist Rabban".

--

27) Diese vier sind: 1) Rabban Gamaliel I, 2) Rabban Jochanan ben Sakkai, 3) Rabban Gamaliel II, 4) Rabban Simon ben Gamaliel II. Bei allen wird der Titel in den besten Handschriften der Mischna (z. B. cod. de Rossi 138) in der Regel ausgeschrieben. Ausserdem kommt in der Mischna einmal vor 5) Rabban Gamaliel III, Sohn des R. Juda ha-Nasi (Aboth II, 2). Von zwei anderen dagegen, denen man ebenfalls diesen Titel beizulegen pflegt (Simon Sohn Hillel's und Simon Sohn Gamaliel's I), kommt der erstere in der Mischna überhaupt nicht vor, der letztere wenigstens an der Hauptstelle Aboth I, 17 nicht unter diesem Titel. Doch ist er wahrscheinlich unter dem Kerithoth I, 7 erwähnten Rabban Simon ben Gamaliel zu verstehen.

28) Die früher von Delitzsch ausgesprochene Meinung, dass die Form nur in Bezug auf Gott gebraucht werde (Zeitschr. f. luth. Theol. 1876, S. 409. 606), ist inzwischen mit Rücksicht auf den Sprachgebrauch der Targume von Delitzsch selbst als irrig zurückgenommen worden (Zeitschr. f. luth. Theol. 1878, S. 7). Völlig irrelevant ist es, dass die Form von den neueren Juden ribbon ausgesprochen wird, wie auch " ribbi. Die Verkürzung des a in i ist bekanntlich im Hebräischen sehr häufig, in diesem Falle aber sehr jungen Datums. Noch im Mittelalter sprach man wahrscheinlich , wie der cod. de Rossi 138 an der Stelle Taanith III, 8 punktirt. Vgl. auch Delitzsch, Zeitschr. f. luth. Theol. 1876, S. 606. Nur für das Aramäische ist die Aussprache ribbon gut bezeugt. S. Berliner's Ausgabe des Onkelos 2. B. Gen. 19, 2. 42, 30. Exod. 21, 4-8. 23, 17.

Schürer, Zeitgeschichte II,

17

5, 5. 8, 24. 45. 9, 33. 49. 17, 13) wiedergegeben. -Als sonstige Ehrenprädicate, welche den Schriftgelehrten gegeben wurden, werden noch erwähnt πατήρ und καθηγητής (Με. 23, 9. 10). Letzteres ist wahrscheinlich Lehrer“ 29); ersteres entspricht dem aram. NEN, was auch in der Mischna und Tosefta als Titel mehrerer Rabbinen vorkommt 30).

[ocr errors]

"

Von Seite ihrer Schüler forderten die Rabbinen die unbedingteste Ehrerbietung, welche selbst die Ehrfurcht gegen Vater und Mutter übertreffen sollte. Die Ehre deines Freundes grenze an die Achtung für deinen Lehrer, und die Achtung für deinen Lehrer an die Ehrfurcht vor Gott 31). Die Ehrerbietung gegen den Lehrer geht der Ehrerbietung gegen den Vater vor; denn Sohn und Vater sind dem Lehrer Ehrerbietung schuldig 32). Wenn Jemandes Vater und Lehrer etwas verloren haben, so geht der Verlust des Lehrers vor (man muss zunächst diesem zur Wiedererlangung behülflich sein). Denn sein Vater hat ihn nur in diese Welt gebracht. Sein Lehrer, der ihm Weisheit lehrt, bringt ihn aber zum Leben in der zukünftigen Welt. Ist aber sein Vater selbst ein Gelehrter, so hat seines Vaters Verlust den Vorzug. Tragen Jemandes Vater und Lehrer Lasten, so muss er zuerst dem Lehrer und hernach dem Vater abhelfen. Sind Vater und Lehrer in der Gefangenschaft, so muss er zuerst den Lehrer und hernach den Vater loskaufen. Ist aber sein Vater selbst ein Gelehrter, so hat sein Vater den Vorzug" 33). -- Ueberhaupt machten die Rabbinen überall auf den ersten Rang Anspruch. „Sie lieben die ersten Plätze bei den Gastmählern und die ersten Sitze in den Synagogen. Und haben's gerne, dass sie gegrüsst werden auf den Märkten und von den Menschen Rabbi genannt werden" (Mt. 23, 6—7. Mc. 12, 38-39. Luc. 11, 43. 20, 46).

Alle Thätigkeit der Schriftgelehrten, sowohl die lehrende als die richterliche, sollte unentgeltlich sein. R. Zadok sagte: Mache die Gesetzeskunde weder zur Krone, damit zu prangen, noch zum Grab

29) S. Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien (1878) S. 279 f.

30) Am häufigsten wird unter diesen erwähnt Abba Saul (Pea VIII, 5. Kilajim II, 3. Schabbath XXIII, 3. Schekalim IV, 2. Beza III, 8. Aboth II, 8. Middoth II, 5. V, 4, und sonst). Vgl. ferner: Abba Gurjan (Kidduschin IV, 14), Abba Jose ben Chanan (Middoth II, 6. Tosefta ed. Zuckermandel p. 154, 18. 199, 22. 233, 22. 655, 31), Abba Jose ben Dosai (Tosefta 23, 4. 217, 19. 360, 16 etc.), Abba Judan (Tosefta 259, 18. 616, 31). Noch andere s. in Zuckermandel's Index zur Tosefta S. XXXI.

31) Aboth IV, 12.

32) Kerithoth VI, 9 fin.

33) Baba mezia II, 11. Vgl. auch Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils I, 144 f. 168. Weber, System der altsynagogalen paläst. Theologie S. 121 ff.

« PreviousContinue »