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1. Wer nämlich am Sabbath weiter als 2000 Ellen zu gehen wünschte, brauchte nur vor Eintritt des Sabbath innerhalb dieser Grenze irgendwo (also etwa an deren Endpunkt) Speise für zwei Mahlzeiten niederzulegen. Er erklärte damit gleichsam, dass hier sein Aufenthaltsort sein werde: und durfte nun am Sabbath nicht nur von seinem factischen Aufenthaltsorte bis zu diesem rechtlichen Aufenthaltsorte 2000 Ellen weit gehen, sondern auch von da an noch 2000 Ellen weiter 103). Ja es war nicht einmal in allen Fällen diese umständliche Vorbereitung nöthig. Wenn z. B. Jemand bei Sabbathanbruch unterwegs war, und er sah auf eine Entfernung von 2000 Ellen einen Baum oder eine Steinmauer, so konnte er dies für seinen Sabbathsitz erklären und durfte dann nicht nur bis zu dem Baume oder der Mauer 2000 Ellen gehen, sondern. von da noch 2000 Ellen weiter. Nur musste er freilich gründlich zu Werke gehen und sagen: „Mein Sabbathsitz sei an dessen Stamme" (p. Denn wenn er nur sagte: „Mein Sabbathsitz sei darunter" (n), so galt dies nicht, weil es zu allgemein und unbestimmt war

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So unschuldig diese Spielereien an sich auch sein mögen: sie zeigen jedenfalls in erschreckender Weise, dass der sittliche Gesichtspunkt vollständig durch den formal-gesetzlichen verdrängt ist; dass man nur dem Gesetzesbuchstaben gerecht zu werden suchte, selbst mit Umgehung von dessen eigenem Sinne.

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Diese Verschiebung des richtigen Gesichtspunktes führte nothwendig auch in wichtigeren Fragen, als die eben berührten waren, zu Resultaten, welche mit einer sittlichen Auffassung der Dinge direct im Widerspruche stehen. Bekannt ist der Weheruf des Herrn über die Schriftgelehrten, die mit dem Eide ihr leichtfertiges Spiel treiben, indem sie sagen: Wer da schwöret bei dem Tempel, das bedeutet nichts; wer aber schwöret bei dem Golde des Tempels, der ist gebunden. Und wer da schwöret bei dem Altar, das bedeutet nichts; wer aber schwöret bei dem Opfer, das auf dem Altar ist, der ist gebunden" (Matth. 23, 16. 18) 105). Bekannt ist ferner die laxe Auslegung der Bestimmung über die Ehescheidung Deut. 24, 1: dass der Mann die Frau entlassen dürfe, wenn er etwas Schändliches (3) an ihr bemerkt habe. Nur die Schule Schammai's liess

103) Jost's Einleitung zum Tractat Erubin. Die näheren Bestimmungen Erubin III. IV. VIII.

104) Erubin IV, 7.

105) Vgl. Schebuoth IV, 13: Wer schwört bei Himmel und Erde", der ist, wenn er falsch geschworen, nicht des Meineides schuldig. S. überh. Schebuoth IV, 3 ff. Auch Maimonides sagt, ein Schwur bei Himmel und Erde sei kein Schwur. S. die Stelle bei Lightfoot, Horae hebr. zu Matth. 5, 33 (Opp. II, 293), Schoettgen, Horae hebr. I, 40.

den Worten ihren eigentlichen Sinn. Die Schule Hillel's deutete sie dahin um: Wenn sie ihm auch nur die Speise verderbt hat. Und nach R. Akiba vollends war dem Manne die Entlassung der Frau gestattet, wenn er auch nur eine andere schöner fand als sie 106). Die Reinigungsgesetze gaben Veranlassung, das Gebiet des geschlechtlichen Lebens in einer Weise zu behandeln, welche viel Aehnlichkeit hat mit der schlüpfrigen Casuistik der Jesuiten: ein schlagender Beweis, wie die casuistische Methode als solche mit innerer Nothwendigkeit auf diese Irrwege führt 107). Auch noch in einem andern Punkte zeigt sich eine auffallende Parallele mit dem Jesuitismus, nämlich in der Hintansetzung der Pietätspflichten, z. B. gegen Vater und Mutter, hinter vermeintliche religiöse Verpflichtungen. „Wenn ein Mensch zu Vater oder Mutter gesagt hat: Geopfert sei, was immer du von mir als Nutzen haben könntest, so gestattet ihr ihm nicht mehr, etwas für Vater oder Mutter zu thun" (Marc. 7, 11-12, vgl. Matth. 15, 5) so wirft Jesus den Pharisäern vor; und übereinstimmend hiermit heisst es in der Mischna, dass ein übernommenes Gelübde nicht wegen der den Eltern schuldigen Ehrfurcht" (13 188) rückgängig gemacht werden könne 10). Die ganz äusserlich und formal aufgefasste religiöse Verpflichtung steht also höher als die höchste Pietätspflicht.

Es ist nach alledem nur zu sehr begründet, wenn der Herr seinen Zeitgenossen ein Mücken-seigen und Kameele-verschlucken vorwirft (Mt. 23, 24), und ihnen die schwere Anklage in's Gesicht schleudert, dass sie die Becher und Schüsseln auswendig rein halten, aber inwendig voll Raub und Unmässigkeit seien (Mt. 23, 25. Luc. 11, 39). Gleich übertünchten Gräbern, welche auswendig zwar anmuthig erscheinen, aber inwendig voller Todtenbeine und alles Unflathes sind, scheinen auch sie von aussen vor den Menschen gerecht, aber inwendig sind sie voller Heuchelei und Untugend (Mt. 23, 27-28. Luc. 11, 44). Indessen wäre es unbillig, in solchen, wie immer auch begründeten, Strafworten eine allseitige Charakteristik der ganzen Zeit zu finden. Die Gerechtigkeit erfordert es, hier nicht unerwähnt zu lassen, dass uns von den Gelehrten jener Zeit doch auch manch schönes Wort aufbewahrt ist, welches den

106) Gittin IX, 10. Vgl. Matth. 19, 3. Ueberhaupt über diese Abschwächungen: Keim, Geschichte Jesu II, 248 ff.

107) Vgl. die Tractate Nidda und Sabim.

108) Nedarim IX, 1 (nur R. Elieser will es gestatten; er steht aber damit allein). Vgl. auch Wünsche, Neue Beiträge S. 184-186. Vergeblich sind die Versuche, das mit der Mischna übereinstimmende Zeugniss Jesu umzudeuten, z. B. von Rosenberg in Delitzsch's Saat auf Hoffnung“ 1875, S. 37-40.

Beweis liefert, dass unter dem Wuste der halachischen Discussionen nicht alles sittliche Urtheil erstickt war. Wir erinnern etwa an die schon erwähnte Mahnung des Antigonus von Socho, dass man den Knechten gleichen solle, welche ohne Rücksicht auf Lohn Dienste leisten 109), oder an die des R. Elieser: das Gebet nicht zur festgestellten Pflicht zu machen 110). Ein Wahlspruch Hillel's war es: Richte deinen Nächsten nicht, bis du an seine Stelle gekommen 111). R. Elieser ben Hyrkanos sagte: Deines Nächsten Ehre sei dir so werth als die deinige 112). R. Jose ha-Kohen sagte: Deines Nächsten Vermögen sei dir theuer wie dein eigenes. Derselbe sagte: Thue alle deine Handlungen im Namen Gottes 113). R. Juda ben Tema sagte: Sei muthig wie ein Leopard, leicht wie ein Adler, schnell wie ein Hirsch und stark wie ein Löwe, den Willen deines Vaters im Himmel zu thun 114).

Wenn wir aber von solchen einzelnen Lichtblicken und ebenso von den tieferen Schatten, welche den Gegensatz hiezu bilden, absehen, so können wir die Gesammtrichtung des Judenthums jener Zeit nicht besser charakterisiren, als mit den Worten des Apostels: Sie haben einen Eifer um Gott, aber in Unverstand (Röm. 10, 2). Es war eine furchtbare Last, welche die falsche Gesetzlichkeit auf die Schultern des Volkes geladen hatte. ,,Schwere und unerträgliche Bürden legen sie den Menschen auf den Hals" (Mt. 23, 4. Luc. 11, 46). Nichts war der freien Persönlichkeit anheimgegeben; alles unter den Zwang des Buchstabens gestellt. Bei jeder Regung und Bewegung musste der gesetzeseifrige Israelite sich fragen: was ist geboten? Auf Schritt und Tritt, bei der Arbeit des Berufes, beim Gebet, bei der Mahlzeit, zu Hause und unterwegs, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, von der Jugend bis zum Alter folgte ihm die zwingende, todte und ertödtende Formel. Ein gesundes sittliches Leben konnte unter solcher Last nicht gedeihen. Ueberall wurde, statt aus innern Impulsen gehandelt, vielmehr äusserlich gemessen und abgewogen. Für den, der es ernst nahm, war das Leben eine stete Qual. Denn

109) Aboth I, 3.

110) Berachoth IV, 4. Vgl. Aboth II, 13.

111) Aboth II, 4. 112) Aboth II, 10.

113) Aboth II, 12.

114) Aboth V, 20. - Vgl. Saalschütz, Archäologie der Hebräer I, 247 ff. Eine Anzahl von talmudischen Parallelen zu Aussprüchen Christi hat Weiss (Zur Geschichte der jüdischen Tradition Bd. I, 1871) zusammengestellt; hieraus in deutscher Uebersetzung mitgetheilt von Weber in Delitzsch's Saat auf Hoffnung" Jahrg. 1872, S. 89 ff. Aehnlich: Duschak, Die Moral der Evangelien und des Talmud, Brünn 1877.

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jeden Augenblick war er in Gefahr, das Gesetz zu übertreten; und da so viel an der äussern Form hing, war er oft im Ungewissen, ob er dem Gesetze wirklich genügt habe. Andererseits war für den, der es in der Kenntniss und Handhabung des Gesetzes zur Meisterschaft gebracht hatte, Hochmuth und Dünkel fast unvermeidlich. Er konnte sich ja sagen, dass er der Pflicht genügt, dass er nichts versäumt, dass er alle Gerechtigkeit erfüllt habe. Aber um so gewisser ist, dass diese Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt. 5, 20), die mit hochmüthigem Danke gegen Gott auf die Sünder herabsah (Luc. 18, 9-14), und pomphaft mit ihren Werken vor den Augen der Welt prahlte (Mt. 6, 2. 23, 5), nicht die wahre und Gott wohlgefällige ist.

$. 29. Die messianische Hoffnung.

Literatur):

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Mack, Die messianischen Erwartungen und Ansichten der Zeitgenossen Jesu (Tüb. Theol. Quartalschr. 1836, S. 3—56. 193–226).

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1) Die ältere Literatur s. bei Hase, Leben Jesu §. 34. De Wette, Biblische Dogmatik (3. Aufl.) S. 163. Bretschneider, Systematische Entwickelung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffe (4. Aufl. 1841) S. 553 ff.

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In dem religiösen Ideenkreis des jüdischen Volkes in unserer Zeit kann man zwei Gruppen unterscheiden: 1) die allgemeinen religiösen Ideen, welche sich auf das Verhältniss des Menschen und der Welt zu Gott überhaupt beziehen, und 2) die specifisch israelitischen Ideen, welche das Verhältniss des jüdischen Volkes zu Jahve als dem Gott Israel's zum Gegenstande haben. Die letzteren

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