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gedrängt, dass auf die Bildung des Essenismus auch fremde Einflüsse eingewirkt haben. Vollends zweifellos wird dies, wenn der Bericht des Josephus über ihre Anthropologie auch nur der Hauptsache nach glaubwürdig ist. Denn wenn sie wirklich die Präexistenz der Seele gelehrt und den Leib nur als Gefängniss der Seele betrachtet haben, dann ist eben damit auch schon entschieden, dass sie von fremden Philosophemen beeinflusst sind. Die Frage nach dem Ursprung des Essenismus verwandelt sich sonach in die nach der Glaubwürdigkeit des Josephus. Diese ist nun freilich durchaus nicht unverdächtig; und wir sahen schon oben (S. 325 f.), dass er auch die Lehre der Pharisäer griechisch gefärbt, ihre jüdische Doctrin in griechisches Gewand gekleidet hat. Aber eben dort fanden wir auch, dass doch alles, was er über sie sagt, im Wesen der Sache richtig ist, und nur die Form von aussen entlehnt ist. Wenn nun von alledem, was er über die Anthropologie der Essener sagt, auch nur ein Wort wahr ist, so steht fest, dass ihre Lehre vom Menschen dualistisch, d. h. nicht-jüdisch war. Und es ist um so weniger Grund, dies zu bezweifeln, als sich von diesem Gesichtspunkte aus auch manche Einzelheiten, namentlich ihr den Pharisäismus noch überbietendes Reinheitsstreben, am einfachsten und natürlichsten erklären.

Aber an welche fremden Einflüsse haben wir nun zu denken? Es sind nicht weniger als vier verschiedene Factoren in Vorschlag gebracht worden, der Buddhismus, der Parsismus, das syrische Heidenthum, der Pythagoreismus. Jeder dieser Factoren kann in der That auf das geistige Leben in Palästina in den letzten Jahrhunderten vor Chr. eingewirkt haben; eben darum wird die Beantwortung der obigen Frage immer eine unsichere bleiben. Am fernsten scheint der Buddhismus zu liegen. Wenn man aber bedenkt, dass schon durch den Eroberungszug Alexander's des Grossen die Kenntniss Indiens den westlichen Völkern erschlossen wurde, dass dann Megasthenes zur Zeit des Seleucus I Nikator, also um 300

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wendeten sie sich um nach Westen (also nach dem Tempel zu) und sagten (mit Bezug auf Ezech. 8, 16 ff.): Unsere Väter, die an diesem Orte waren, wendeten ihren Rücken dem Tempel Gottes zu und ihr Gesicht dem Osten, und beteten nach Osten die Sonne an. Wir aber richten unsere Augen auf Gott". — Wenn es in der Sapientia Salom. 16, 28 heisst, man solle der Sonne zuvorkommen mit der Danksagung gegen Gott, und zu Gott beten лo̟ò̟s åvαtoλǹv potós, so ist noós nicht örtlich sondern zeitlich gemeint: „gegen Sonnenaufgang", wie Luc. 24, 29 noòç konioar, vgl. Grimm, Exeget. Handbuch, zu Sap. Sal. 16, 28. Auch das Material, welches Lucius (S. 61, 69 f., 125 Anm.) zur Erklärung der essenischen Sitte vom jüdischen Standpunkte aus beibringt, ist nicht beweisend. Sehr gut ist das Fremdartige derselben nachgewiesen bei Lightfoot S. 374-376, welcher vermuthet, dass die Sampsäer selbst nichts anderes seien, als ein Ausläufer des Essenismus.

vor Chr., auf Grund seiner eigenen Beobachtungen während eines längeren Aufenthaltes in Indien eine eingehende Beschreibung des Landes und seiner Bewohner geliefert hat 104), und dass in der griechisch-römischen Zeit vom rothen Meere aus wahrscheinlich eine regelmässige Handelsverbindung mit Indien bestand 105), wenn man ferner die zum Theil frappirenden Parallelen zwischen Buddhismus und Essenismus erwägt, so wird man wenigstens die Möglichkeit eines geschichtlichen Zusammenhanges nicht bestreiten können. Immerhin ist dieser Zusammenhang bei der in vorchristlicher Zeit doch noch spärlichen Verbindung Indiens mit dem Westen nicht wahrscheinlich 106). Näher liegt es, an Parsismus oder Pythagoreismus zu denken; denn die Berührungen mit dem syrischen Heidenthum sind doch nur sehr allgemeine und betreffen höchstens einzelne

104) Die umfangreichen Fragmente des Megasthenes s. bei Müller, Fragm. hist. graec. II, 397-439. Vgl. über ihn auch Pauly's Real-Enc. IV, 1721. Nicolai, Griech. Literaturgesch. II, 170 f. Das Werk des Megasthenes scheint für lange Zeit die Hauptquelle über Indien geblieben zu sein. Doch hat Strabo in seiner ausführlichen Beschreibung Indiens (XV,1, p. 685—720) auch mehrere Schriftsteller aus dem Gefolge Alexanders des Grossen als Quelle benützt (Aristobulus, Nearchus, Onesikritus). Noch andere 'Ivdizá s. bei Müller, Fragm. hist. graec. IV, 688b unten; Nicolai, Griech. Literaturgesch. II, 170 f. Dass gewisse Hauptpunkte in das allgemeine Bewusstsein übergingen, sieht man 2. B. aus Philo, Quod omnis probus liber §. 11, Josephus, Bell. Jud. VII, 8, 7 (ed. Bekker p. 160, lin. 20 sqq.). Eine Geschichte des griechischen Wissens von Indien“ überhaupt giebt Lassen, Indische Alterthumskunde, Bd. II (2. Aufl. 1874) S. 626-751. Vgl. auch die sorgfältige Untersuchung bei Lightfoot, St. Paul's epistles to the Colossians etc. p. 390-396, und die von ihm citirten beiden Werke: Reinaud, Relations politiques et commerciales de l'empire romain avec l'Asie centrale, Paris 1863, und Priaulx, The Indian Travels of Apollonius of Tyana and the Indian Embassies to Rome, 1873.

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105) Vgl. namentlich den oben S. 33 und 39 erwähnten Periplus maris Erythraei und die in der vorigen Anmerkung citirte Literatur. Zur Zeit des Augustus kamen auch politische Gesandtschaften aus Indien nach Rom (Monumentum Ancyranum V, 50—51 und dazu Mommsen, Res gestae divi Augusti 1883, p. 132 sq. Strabo XV, 1, 4 p. 686 und XV, 1, 73 p. 719. Dio Cass. LIV, 9. Sueton. Aug. 21. Orosius VI, 21, 19).

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106) S. dagegen: Zeller, Philosophie der Griechen III, 2, 323 ff. Lightfoot, St. Paul's epistles to the Colossians etc. p. 390-396. Auch auf anderen Gebieten sind die indischen Einwirkungen, die man in neuerer Zeit nachzuweisen versucht hat, fraglich, ja mehr als fraglich. Letzteres gilt namentlich von: Seydel, Das Evangelium von Jesu in seinen Verhältnissen zu BuddhaSage und Buddha-Lehre, Leipzig 1582 (dagegen: Theol. Literaturzeitung 1882, 415 ff.); ders., Die Buddha-Legende und das Leben Jesu nach den Evangelien, Leipzig 1884 (dagegen: Theol. Litztg. 1884, 185 ff.). Ueber Pythagoras: Schroeder, Pythagoras und die Inder, Leipzig 1884 (dagegen: A. W. im Lit. Centralbl. 1884, Nr. 45).

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Punkte. Im Parsismus dagegen finden wir eine Reihe charakteristischer Eigenthümlichkeiten der Essener: die Waschungen und die weisse Kleidung (für die Magier), die Verehrung der Sonne und die Verwerfung des eigentlichen Opferns der Thiere (d. h. der Darbringung des Fleisches an die Gottheit), namentlich auch die Engellehre und die Magie. Da nun ohnehin auch das vulgäre Judenthum Einwirkungen des Parsismus zeigt (s. oben S. 287), so scheint die Annahme parsistischen Einflusses sehr naheliegend. Derselbe wäre im Essenismus nur etwas stärker, als im vulgären Judenthum 107). Allein andere Punkte sind doch wieder nicht parsistisch; so namentlich die Ehelosigkeit und die ganze Anthropologie 108). Es dürfte daher nach wie vor die namentlich von Zeller eingehend begründete Hypothese, dass die Eigenthümlichkeiten des Essenismus aus pythagoreischen Einwirkungen zu erklären sind, die meiste Wahrscheinlichkeit für sich haben. Der Pythagoreismus nämlich weist von allen bisher genannten Richtungen die meisten Parallelen mit dem Essenismus. auf. Er theilt mit ihm das Streben nach körperlicher Reinheit und Heiligkeit: die Waschungen, die einfache, von allem Sinnengenuss sich frei haltende Lebensweise, die Hochschätzung (wenn auch nicht gerade Forderung) der Ehelosigkeit, die weisse Kleidung, die Verwerfung des Eides, namentlich aber auch die Verwerfung der blutigen Opfer, die Anrufung der Sonne und die Aengstlichkeit, mit der man alles Unreine (wie die menschlichen Entleerungen) ihrem Anblicke entzog 109), endlich die dualistische Anschauung über das Verhältniss von Seele und Leib. Dies Alles gehört zum Lebensideal und zur Lehre wie der Essener, so auch der Pythagoreer 110). Wenn auf Grund dieser weitgehenden Uebereinstimmung ein geschichtlicher Zusammenhang zwischen beiden mindestens sehr wahrscheinlich ist, so erhalten dadurch auch jene Eigenthümlichkeiten des Essenismus, die sich von der jüdischen Grundlage aus begreifen lassen, ein neues Licht. Sie sind doch nicht das Resultat einer spontanen Entwickelung, sondern einer Befruchtung des Judenthums durch fremde Factoren. Diese

107) S. Hilgenfeld, Zeitschr. für wissenschaftl. Theol. 1867, S. 99 ff. Ders., Ketzergeschichte des Urchristenthums S. 141 ff. Lightfoot S. 387 ff. 108) S. Zeller, Philosophie der Griechen III, 2, 320 ff.

109) Dass die Anbetung der Sonne zum Lebensideal der Pythagoreer gehörte, sehen wir namentlich aus des Philostratus Biographie des Apollonius von Tyana (vgl. Zeller, Philosophie der Griechen III, 2, S. 155, Anm. 1). Auch das Streben, alles Unreine ihrem Anblick zu entziehen, ist echt pythagoreisch. Vgl. Zeller, Theol. Jahrbb. 1856, S. 425. Mangold, Irrlehrer der Pastoralbriefe S. 52.

110) S. die Nachweise bei Zeller, Theol. Jahrbb. 1856, S. 401 ff. Philosophie der Griechen III, 2, S. 325 ff.

letzteren haben auf das Judenthum eben deshalb eine Anziehungskraft ausgeübt, weil sich im Judenthum eine Reihe wahlverwandter Anknüpfungspunkte für sie fand.

Historisch ist eine solche Einwirkung des Pythagoreismus auf jüdische Kreise, die zur Bildung dieser Sonder-Richtung auf jüdischem Boden geführt hat, wohl erklärlich. Der Essenismus ist frühestens um die Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Chr. nachweisbar. Der Pythagoreismus aber ist, wenn auch nicht als geschlossene Philosophenschule, so doch als Lebensanschauung und Lebenspraxis weit älter. Da nun seit der Zeit Alexanders des Grossen die griechische Bildung auch auf Palästina mächtig einwirken musste erst durch die makkabäische Bewegung ist sie zurückgedrängt worden, so ist es nur natürlich, wenn wir in dem Kreise der Essener den thatsächlichen Beweis für diese Einwirkung des Griechenthums finden. Der Essenismus wäre demnach eine Separation von dem Boden des eigentlichen Judenthums, welche etwa im zweiten Jahrhundert vor Chr. unter griechischen Einflüssen sich vollzogen hat zum Zweck der Verwirklichung eines dem Pythagoreismus verwandten Lebensideales, aber unter Festhaltung der jüdischen Grundlage 111).

Dieses Resultat mit Sicherheit hinzustellen hindert uns nur eines: die räthselhafte Gestalt des Pythagoreismus selbst. Gerade jene Eigenthümlichkeiten, welche der Pythagoreismus mit dem Essenismus gemein hat, sind selbst nicht echt griechisch, sondern höchst wahrscheinlich orientalischen Ursprungs. Sollte also das Zusammentreffen beider nicht doch daraus zu erklären sein, dass beide unabhängig von einander aus der gemeinsamen orientalischen Quelle geschöpft haben? Es würde dies wieder dahin führen, den Essenismus vorwiegend aus parsistischen Einwirkungen abzuleiten. Die Möglichkeit, dass es sich so verhalte, wird nicht geläugnet werden können. Möglicherweise aber hat beides stattgefunden: parsistische und pythagoreische Einwirkung zugleich. Die culturgeschichtlichen Strömungen durchkreuzen sich auf dem Boden Vorder-Asiens in so bunter und mannigfaltiger Weise, dass es unmöglich ist, derartige Fragen mit Sicherheit zu beantworten. Ein doppeltes aber darf doch

111) Die Frage, ob die Therapeuten Vorläufer der Essener seien oder umgekehrt (die von Zeller früher im ersteren, später im letzteren Sinne beantwortet wurde), kann jetzt unerörtert bleiben, da die einzige Schrift, welche uns von den Therapeuten Kunde giebt, nämlich Philo, De vita contemplativa (Mangey II, 471-486), sicher unecht ist, und die Therapeuten höchst wahrscheinlich nichts anderes sind, als christliche Mönche. S. darüber unten §. 34,

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als Resultat unserer Untersuchung festgehalten werden: 1) dass der Essenismus zunächst und vorwiegend ein jüdisches Gebilde ist, und 2) dass er in seinen nicht-jüdischen Zügen sich am meisten mit der pythagoreischen Richtung der Griechen berührt.

§. 31. Das Judenthum in der Zerstreuung. Die Proselyten.

Literatur:

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Winer, RWB. Art. „Exil“ (I, 357-360) und „Zerstreuung“ (II, 727—730). Auch die Artikel über einzelne Städte, wie Alexandria“, „Antiochia", "Cyrene", „Rom“ u. a.

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J. G. M(üller), Art. „Alexandrinische Juden" in Herzog's Real-Enc. 1. Aufl. Bd. I (1854), S. 235–239.

Reuss, Art. „Hellenisten" in Herzog's Real-Enc. 1. Aufl. V, 701-705 (2. Aufl.
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Lutterbeck, Die neutestamentlichen Lehrbegriffe Bd. I (1852), S. 99–120.
Frankel, Die Diaspora zur Zeit des zweiten Tempels (Monatsschr. für Gesch.
und Wissensch. des Judenth. 1853, S. 409-429. 449-463).
Frankel, Die Juden unter den ersten römischen Kaisern (Monatsschr. 1854,
S. 401-413. 439-450).

Jost, Gesch. der Israeliten Bd. II, S. 239-344.

Ders., Gesch. des Juden

thums und seiner Secten Bd. I, S. 336 ff. 344-361. 367-379. Herzfeld, Gesch. des Volkes Jisrael Bd. III, S. 425-579.

geschichte der Juden des Alterthums, 1879.

Ders., Handels

Grätz, Gesch. der Juden Bd. III, 3. Aufl. (1878), S. 26-54. Champagny, Rome et la Judée au temps de la chute de Néron, tome I (Paris 1865) p. 107-154.

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Hausrath, Neutestamentliche Zeitgeschichte 2. Aufl. Bd. II, 91-145. III, 383-392.

Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms Bd. III (1871),

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