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§. 33. Die hellenistisch-jüdische Literatur.

Vorbemerkungen.

Noch viel mannigfaltiger als die palästinensisch-jüdische Literatur ist die hellenistisch-jüdische. Biblisches und rabbinisches Judenthum auf der einen Seite, griechische Philosophen, Dichter und Historiker auf der anderen Seite bilden die Factoren, durch deren Zusammenwirken auf dem Boden der jüdischen Diaspora eine Literatur von der buntesten Mannigfaltigkeit entstanden ist: vielgestaltig nicht bloss in ihrer literarischen Form, sondern auch hinsichtlich der Standpunkte, welche die Verfasser vertreten, und der Zwecke, welche sie verfolgen.

Im Allgemeinen theilt dieses hellenistische Judenthum und seine Literatur den geistigen und literarischen Charakter der Zeit. Es ist die alexandrinisch-römische Epoche der griechischen Literatur, in welcher die letztere den Boden des nationalen Griechenthums verlassen hat und zur Weltliteratur geworden ist). Denn die Völker im Bereiche des mittelländischen Meeres haben die griechische Cultur nicht nur sich angeeignet, sondern sie steuern nun auch ihrerseits bei zu der literarischen Production des Zeitalters. Aus aller Herren Länder treten griechisch gebildete Männer als Schriftsteller auf, die an jeder Art literarischen Betriebes sich betheiligen und durch ihr Zusammenwirken der griechischen Literatur den kosmopolitischen Charakter aufprägen: kosmopolitisch in doppelter Hinsicht, nach Seite des Ursprungs und nach Seite der Wirkung. Es strömen jetzt in die griechische Literatur mehr und mehr auch die geistigen Errungenschaften des Orients ein. Religion und Philosophie empfangen von hier aus neue Anregungen, Dichter und Historiker neue Stoffe. Und umgekehrt: auch die Wirkung, die man beabsichtigt, ist kosmopolitisch. Wer jetzt zur Feder greift, schreibt nicht nur für das kleine Volk der Griechen, sondern für die Gebildeten aller Welt.

An dieser literarischen Production haben sich nun auch die gräcisirten Juden betheiligt. Und das zuletzt gesagte gilt von ihnen in ganz besonderem Masse; vor allem, dass sie ein neues Element in die griechische Literatur eingeführt haben. Was bisher nur Be

1) Zur Charakteristik derselben vgl. Dähne, Geschichtliche Darstellung der jüd.-alexandr. Religionsphilosophie I, 1-15. - Bernhardy, Grundriss der griechischen Litteratur Bd. I (4. Bearb. 1876) S. 498-577. Volkmann, Art. Alexandriner" in Pauly's Real-Enc. I, 1 (2. Aufl.) S. 743—753 (woselbst auch noch andere Literatur). Nicolai, Griech. Literaturgeschichte Bd. II (1876)

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S. 80 f.

sitzthum eines kleinen Kreises war: die religiöse Erkenntniss Israel's, das macht sich jetzt auch im Bereiche der griechischen Literatur geltend. In den Formen und mit den Mitteln, welche die literarische Bildung der Griechen darbot, wird der religiöse Glaube Israels, wird seine Geschichte, seine grosse heilige Vorzeit dargestellt und damit aller Welt zugänglich gemacht. Und diese letztere Wirkung ist bei einem grossen Theile der jüdisch-hellenistischen Literatur geradezu auch beabsichtigt. Man schreibt nicht nur für die eigenen Volksund Glaubensgenossen, sondern man will alle Welt mit der grossen Geschichte Israels, mit seiner überlegenen religiösen Erkenntniss vertraut machen.

Die Verbindung der eigenen nationalen Bildung mit der griechischen ist natürlich auch bei den Juden wie bei anderen Orientalen nicht eine bloss äusserliche gewesen. Judenthum und Griechenthum sind hier wirklich in einen inneren Verschmelzungsprocess mit einander eingetreten 2). Das Judenthum, das in seiner festen pharisäischen Ausprägung so schroff abgeschlossen erscheint, hat sich auf dem Boden des Hellenismus als ungemein bildsam und accomodationsfähig erwiesen; es hat dem übermächtigen griechischen Geiste einen weitgehenden Einfluss verstattet. Was ein Gemeingut der ganzen gebildeten Welt war: die grossen Dichter, Philosophen und Historiker der Griechen, das wollten auch die hellenistischen Juden sich nicht entgehen lassen. Auch sie schöpften aus dem frischen Quell der griechischen Classiker das, was dem Alterthum das Höchste erschien: humane Bildung. Unter dem Einfluss derselben ist aber das Judenthum, ohne dass man es merkte, etwas anderes geworden. Es streift seinen partikularistischen Charakter ab. Es findet wahre, göttliche Gedanken auch in der Literatur der Heidenwelt und eignet sich dieselben an; es umfasst alle Menschen als Brüder und will alle, die noch in Finsterniss wandeln, zur Erkenntniss der Wahrheit führen.

Indem aber so die Juden wie andere Orientalen zu Griechen werden, zeigt sich dabei doch zugleich, dass das Judenthum etwas anderes ist, als die heidnischen Religionen. Seine innere Widerstandskraft war ungleich grösser als die der letzteren. Während die anderen orientalischen Religionen in der allgemeinen Religionsmengerei der Zeit aufgehen, hat sich das Judenthum seinem Kerne

2) Vgl. über das hellenistische Judenthum überhaupt: Dähne, Geschichtliche Darstellung I, 15 ff. Lutterbeck, Die neutestamentlichen Lehrbegriffe I, 99-120. Herzfeld, Gesch. des Volkes Jisrael III, 425-579. Ewald, Gesch. des Volkes Israel IV, 303 ff. Siegfried, Philo etc. S. 1-27. Ders., Der jüdische Hellenismus (Zeitschr. für wissensch. Theol. 1875, S. 465-489).

nach doch ungebrochen erhalten. Es hat die Einheit Gottes und seine bildlose Verehrung streng und unverrückt festgehalten; zugleich auch den Glauben, dass Gottes Wege mit der Menschheit zu einem seligen Ziele führen. In diesem sicheren Festhalten des Kernes gegenüber dem Andrängen des Griechenthums hat es seine überlegene religiöse Kraft erwiesen.

Das Bewusstsein dieser Ueberlegenheit prägt nun auch der hellenistisch-jüdischen Literatur ihren Charakter auf. Sie verfolgt zu einem grossen Theile den praktischen Zweck, nicht nur die eigenen Glaubensgenossen zu stärken und sie mit ihrer grossen Vergangenheit bekannt zu machen, sondern auch die nichtjüdischen Leser zur Erkenntniss von der Thorheit des Heidenthums zu bringen, sie von der Grösse der Geschichte Israel's und von der Grundlosigkeit aller Angriffe auf dieses Volk zu überzeugen. Sie ist also zu einem grossen Theil apologetisch im umfassendsten Sinne Und in diesem Vorwiegen des praktischen Zweckes ist sie der palästinensischen verwandt. Wie diese vorwiegend den Zweck verfolgt, die gesetzestreue Gesinnung zu stärken und zu beleben, so die hellenistisch-jüdische wenigstens zu einem grossen Theile den Zweck, auch der nicht-jüdischen Welt Achtung vor dem Volk und der Religion Israel's einzuflösen, ja womöglich sie zu derselben heranzuziehen.

Der Hauptsitz des hellenistischen Judenthums und damit auch der hellenistisch-jüdischen Literatur war Alexandria, die Hauptstadt des Ptolemäerreiches, welche durch die Bemühungen der Ptolemäer zur ersten Stätte gelehrter Bildung im hellenistischen Zeitalter erhoben worden war. Hier standen die Bildungsmittel der Zeit in einer Fülle wie sonst nirgends zu Gebote. Zugleich lebten aber auch nirgends ausserhalb Palästina's Juden in so grosser Zahl beisammen wie in Alexandria. Es war also eine innere Nothwendigkeit, dass eben hier das hellenistische Judenthum zu seiner höchsten Blüthe gedieh und die hellenistisch- jüdische Literatur am meisten gepflegt wurde. Aber man irrt doch, wenn man meint, dass diese Bestrebungen eben nur in Alexandria gepflegt wurden. Sie sind durchaus nichts specifisch alexandrinisches", sondern ein Gemeingut des hellenistischen, d. h. ausserpalästinensischen Judenthums überhaupt. Ja selbst in Palästina haben sie ihre Vertreter, wenn auch hier die makkabäische Bewegung dem Um-sich-greifen dieser Richtung einen starken Damm entgegengesetzt hat3).

Die Verschiedenheit sowohl der literarischen Form als des theologischen Standpunktes der hier zu besprechenden Schriftwerke ist

3) Vgl. über das hellenistische Judenthum in Palästina bes. Freudenthal, Alexander Polyhistor (1875) S. 127-129.

hauptsächlich dadurch bedingt, dass dieselben sich bald mehr an die biblischen Vorbilder anschliessen, bald mehr den griechischen Mustern folgen. Zwischen den beiden hierdurch bezeichneten Endpunkten giebt es aber eine grosse Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die nur schwer unter bestimmte Rubriken zu bringen sind. Am angemessensten dürften etwa folgende Gruppen zu unterscheiden sein.

I. Uebersetzungen der heiligen Schriften.

1. Die Septuaginta.

Die Grundlage aller jüdisch-hellenistischen Bildung ist die alte anonyme griechische Uebersetzung der heiligen Schriften, die unter dem Namen der Septuaginta (oi ẞdouýzovta, septuaginta interpretes) bekannt und durch die Ueberlieferung der christlichen Kirche uns vollständig erhalten ist. Ohne sie ist das hellenistische Judenthum ebenso wenig denkbar, wie die evangelische Kirche Deutschlands ohne Luthers deutsche Bibelübersetzung 4).

Der einheitliche Name darf nicht zu der Vorstellung verleiten, als ob wir es dabei mit einem einheitlichen Werke zu thun hätten. Was später unter jenem Namen zusammengefasst wurde, ist nicht nur die Arbeit verschiedener Verfasser, sondern auch zu verschiedenen Zeiten entstanden. Der älteste Bestandtheil ist die Uebersetzung des Pentateuches. Ueber deren Entstehung giebt der sogenannte Brief des Aristeas einen ausführlichen Bericht. Der König Ptolemäus II Philadelphus (283-247 vor Chr.) wurde durch seinen Bibliothekar Demetrius Phalereus veranlasst, auch das Gesetz der Juden für seine Bibliothek in's Griechische übersetzen zu lassen. Auf seine Bitte schickte ihm der jüdische Hohepriester Eleasar 72 geeignete Männer, je 6 aus jedem Stamme, durch deren Arbeit das Ganze in 72 Tagen vollendet wurde (näheres s. unten Abschnitt VII). Die Geschichtlichkeit dieses Berichtes, der mit einer Menge anschaulichen Detailes ausgeschmückt ist, ist heutzutage allgemein aufgegeben. Es frägt sich nur, ob der romanhaften Ausschmückung nicht vielleicht eine historische Ueberlieferung zu Grunde liegt, deren Kern etwa dies sein würde, dass die Uebertragung des jüdischen Gesetzes in's Griechische durch Ptolemäus Philadelphus auf Anregung des Demetrius Phalereus veranstaltet worden ist 5).

4) Der Name Septuaginta" bezieht sich zunächst nur auf die Uebersetzung des Pentateuches, ist aber dann auch auf die der anderen Bücher übertragen worden.

5) So z. B. Wellhausen in seiner Bearbeitung von Bleek's Einleitung in das Alte Testament (4. Aufl. 1878) S. 571 ff.

An sich wäre dies wohl möglich. Denn bei dem gelehrten literarischen Eifer der Ptolemäer, speciell des Ptolemäus Philadelphus, wäre es allerdings denkbar, dass derselbe den Wunsch hatte, auch das Gesetz der Juden seiner Bibliothek einzuverleiben. Und man kann zu Gunsten dieser Auffassung auch anführen, dass der jüdische Philosoph Aristobul zur Zeit des Ptolemäus VI Philometor eben das, was wir oben als den möglichen Kern der Ueberlieferung bezeichnet haben, erzählt, ohne dabei eine Kenntniss der romanhaften Ausschmückung des Aristeas - Briefes zu verrathen, was einigermassen dafür zu sprechen scheint, dass er einer vom Aristeas - Brief unabhängigen Tradition folgt 6). Bedenklich ist aber namentlich, dass nach einer sehr glaubwürdigen Nachricht Demetrius Phalereus überhaupt nicht am Hofe des Ptolemäus Philadelphus gelebt hat, sondern von demselben schon gleich nach dem Tode des Ptolemäus Lagi aus Alexandria verbannt worden ist 7). Damit fällt doch auch der vermeintliche Kern der Tradition. Es bleibt also eine blosse Möglichkeit, dass die Septuaginta-Uebersetzung des Pentateuches den literarischen Bestrebungen des Ptolemäus Philadelphus ihre Entstehung verdankt. Möglich ist ebenso auch, dass sie durch die eigenen Bedürfnisse der Juden hervorgerufen wurde. Indem jüdische Männer, welchen die Erhaltung der Gesetzeskunde auch in der Diaspora am Herzen lag, die Beobachtung machten, dass die Kenntniss der heiligen Sprache mehr und mehr abnahm und die Juden in der Diaspora das Griechische als Muttersprache sich aneigneten, konnten sie dadurch sich wohl veranlasst fühlen, das Gesetz in's Griechische zu übertragen, um seine Kenntniss auch unter den griechischen Juden zu erhalten. Diese Uebersetzung ist zunächst wohl nur als Privat-Arbeit unternommen worden und hat erst allmählich auch officielle Geltung erhalten. So dunkel aber der Ursprung der Uebersetzung auch ist, so darf doch schon aus inneren Gründen (vgl. z. B. de Wette's Einl. in's A. T. §. 53) als sicher angenommen werden,

6) Die Stelle aus Aristobul ist mitgetheilt bei Euseb. Praep. evang. XIII, 12, 1-2 (ed. Gaisford). Aristobul spricht hier davon, dass schon Plato die jüdische Gesetzgebung gekannt habe. Um dies als möglich darzuthun, behauptet er, dass schon vor Demetrius Phalereus der wesentliche Inhalt derselben in's Griechische übertragen worden sei. Darauf fährt er dann fort: Ἡ δ' ὅλη ἑρμηνεία τῶν διὰ τοῦ νόμου πάντων ἐπὶ τοῦ προσαγορευθέντος Φι λαδέλφου βασιλέως, σοῦ δὲ προγόνου, προσενεγκαμένου μείζονα φιλοτιμίαν, Δημητρίου τοῦ Φαληρέως πραγματευσαμένου τὰ περὶ τούτων.

7) Der Gewährsmann ist der unter Ptolemäus III und IV lebende Hermippus Callimachius. S. die Stelle aus Diogenes Laert. V, 78 bei Müller, Fragm. hist. graec. III, 47; daselbst auch S. 48 die Verhandlungen über die Glaubwürdigkeit der Notiz.

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