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mit nicht geringerer Sorgfalt zu achten, als auf die Darstellung des Ereignisses, mit anderen Worten die gegenseitige Wechselwirkung des Innern auf das Aeussere und des Aeusseren auf das Innere zur klarsten Anschauung zu bringen. Aber er wird immer hinter seinem Ziele zurückbleiben, wenn er, gleichsam von unten nach oben aufsteigend, die Lösung der grossen Räthselfragen des Lebens zuerst in dem Individuum sucht, nicht aber das Universum mit intuitivem Blicke in sein Inneres aufzunehmen und von diesem erhabenen Standpunkte aus den Schlüssel der Lösung zu finden sucht. Das ist es, was Sophokles, Dante, Goethe zu der in Ewigkeit bewundernswürdigen Grösse erhob. Ob Shakespeare nach diesem Ziele in dem Ganzen seiner Historien im Allgemeinen sowohl. als in vielen einzelnen derselben mit tiefer dichterischer Intuition, sei es bewusst oder unbewusst, gestrebt hat, wer wollte das bezweifeln? Und dass diese Bestrebung ihm als ein ausschliessliches Eigenthum gehört, von keinem seiner Zeitgenossen ihm nur im Entferntesten wett gemacht worden, vor dieser Anschauung und Thatsachen sollten meiner Meinung nach alle Zweifel darüber schwinden, dass nur er der ursprüngliche Schöpfer der oben bezeichneten ganzen Trilogie gewesen sein könne. Was wollen dagegen Widersprüche, sprachliche und dramatische Schwächen, verwandte Ausdrücke mit anderen Dichtern, kurz alle kleinlich erspürten Beweisgründe sagen, zumal da auch diese oft nur auf schwachen Füssen stehu? Ob nun endlich Shakespeare dieses erhabene Ziel in der höchsten Vollkommenheit erreicht. hat? Dieser Frage Schritt vor Schritt nachzugehn, würde allerdings eine Aufgabe von der reizendsten Anziehungskraft sein. Um so schmerzlicher muss ich es beklagen, an dieser Stelle wegen Raum und Zeit auf eine weitere Ausführung verzichten zu müssen.

Wenn es mir gelungen wäre, mit diesen dürftigen Strichen die Grösse des dichterischen Monumentes, dass uns Shakespeare als ächtes Kind seiner Zeit und denuoch in der höchsten Erhabenheit über seiner Gegenwart für alle Zeiten in seinen Historien hinterlassen hat, nur entfernt anzudeuten, so würde mein Ziel erreicht sein. Was und wo es noch an Wünschen übrig bleiben sollte, da möge Ihre liebevolle Nachsicht entschuldigend und ergänzend eintreten.

Jahresbericht für 1871-1872.

Abgestattet in der Jahres-Versammlung zu Dresden

am 25. Mai 1872

von

H. Ulrici.

Ich beginne nach dem geistvollen Vortrage (den wir so eben

gehört haben) über Shakespeare's historische Dramen die ja mehr als andere von Thaten sprechen - meinen historischen Bericht wol am füglichsten mit dem, was die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft im verflossenen Jahre nachweislich gethan hat. Denn Thaten und Wirkungen beweisen ja noch klarer und sicherer als selbst Zahlen, was eine Sache werth ist. Nicht als ob wir besonders viel geleistet hätten; unsere Thätigkeit hat an und für sich ihre bestimmten Schranken, und in unserer, von den praktischen Interessen beherrschten Zeit finden Bestrebungen wie die unsrigen keinen besonders günstigen Boden. Wir haben indess im verflossenen Jahre das erste grössere Unternehmen, das wir begonnen, glücklich zu Ende geführt: ich meine das Uebersetzungswerk der Shakespeare'schen Dramen, dessen ich in meinen Jahresberichten wiederholentlich gedacht habe. Es liegt jetzt vollendet vor; die beiden letzten Bände sind noch vor Schluss des vorigen Jahres ausgegeben worden. Wie über die bisher erschienenen Jahrbücher, so hat sich auch über dieses Werk die unparteiische Kritik nur günstig ausgesprochen, so dass wir hoffen dürfen, durch dasselbe um einen Schritt weiter zum Ziele, zum gründlichen Verständniss der Shakespeare'schen Dramen, gelangt zu sein. - Der Absatz des Jahrbuches, das wir in Selbstverlag genommen, hat sich im vorigen Jahre erheblich gesteigert,

und da jeder Käufer desselben eo ipso zugleich Mitglied der Gesellschaft ist, so haben wir implicite auch einen Zuwachs an Mitgliedern gewonnen. Das neue Jahrbuch liegt fertig vor und wird dess bin ich überzeugt dieselbe Anerkennung finden, welche der Eifer und die umsichtige Thätigkeit seines Redacteurs verdienen. Ich mache bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam, dass der buchhändlerische Vertrieb des Jahrbuches wie die Einziehung der Beiträge von der Buchhandlung Asher & Co. auf den Buchhändler Herrn Huschke in Weimar übergegangen ist.

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Für die folgenden Jahre indess wollen wir uns mit der Herausgabe eines neuen Bandes des Jahrbuchs nicht begnügen. Nachdem unser Uebersetzungswerk vollendet ist, halten wir es für angemessen, den Originalwerken Shakespeare's unsere Thätigkeit zu widmen und haben demgemäss beschlossen, an eine Arbeit zu gehen, welche das Studium und Verständniss der Shakespeare'schen Dramen im Original zu erleichtern und zu befördern unseres Erachtens ganz besonders geeignet sein dürfte und

um einer oft gemissbrauchten Redensart ihr Recht anzuthun - ein vielfach gefühltes Bedürfniss befriedigen wird. Wir haben beschlossen, eine sogenannte Variorum Edition (mit oder ohne begleitenden Text) zu veranstalten, d. h. eine Ausgabe, welche den kritischen, emendirenden wie erläuternden Apparat, der sich im Lauf der Zeit an die Shakespeare'schen Dramen angesetzt hat, natürlich mit Ausscheidung alles Veralteten und Unbrauchbaren, so vollständig wie möglich zusammenstellt und dadurch jedem künftigen Herausgeber wie jedem Shakespeare-Studenten einen Ueberblick gewährt über das, was bisher im Gebiete der ShakespeareKritik und Interpretation geleistet ist. Eine solche Ausgabe ist seit der Boswell'schen Variorum Edition von 1821 weder in England noch in Deutschland erschienen. Seitdem aber ist der zum Verständniss der Shakespeare'schen Sprache nach Form und Inhalt jedem Leser nothwendige Apparat in so hohem Maasse, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ angewachsen, dass es in der That ein dringendes Bedürfniss ist, das in hundert verschiedenen Schriften, Ausgaben, Glossarien, Journalartikeln zerstreute Material zu sammeln und zu ordnen.

Auch unsere Bibliothek schreitet rüstig vorwärts. Sie enthält gegenwärtig 430 Nummern (darunter indess viele Werke von 9--10 und mehr Bänden). Im verflossenen Jahre sind gegen 90 Thaler zur Completirung derselben verwendet worden, und für das laufende Jahr hat Ihre Königliche Hoheit, die Fran Grossherzogin von Weimar, unsre durchlauchtigste Lady Patroness, wiederum 100 Thaler vorzugs

weise zur Vermehrung der Bibliothek uns gnädigst zu bewilligen geruht.

Unser hochverdienter Schatzmeister ist leider verhindert, der Versammlung beizuwohnen. Den von ihm eingesandten Bericht über den Stand unserer Finanzen Ihnen vorzutragen hat Herr Commerzienrath Oechelhäuser gütigst übernommen. Sie werden daraus ersehen, dass unsere finanziellen Verhältnisse, wenn auch nicht besonders günstig, doch befriedigend sind.

Und so dürfen wir, denke ich, mit Hoffnung und Vertrauen in die nächste Zukunft blicken, freilich indess nur unter der Voraussetzung, dass Sie uns wie bisher Ihren Beistand gewähren und jeder an seinem Theil zur Förderung unserer Bestrebungen mitzuwirken suche.

Bericht

über die Jahresversammlung zu Dresden

am 25. Mai 1872.

In Folge Vorstandsbeschlusses vom 26. October 1871 fand die achte Jahresversammlung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft zu Dresden (im Zwinger - Pavillon) Statt und wurde durch den vorstehend abgedruckten Vortrag des Herrn Vicepräsidenten Freiherrn von Friesen über Shakespeare's Historien eröffnet. Der Herr Präsident Prof. Dr. Ulrici knüpfte daran seinerseits eingehende Bemerkungen über denselben Gegenstand und verlas dann den gleichfalls vorstehend abgedruckten Jahresbericht, worauf in Abwesenheit des Herrn Schatzmeisters Commerzienrath Moritz der Herr Vicepräsident Commerzienrath Oechelhäuser über den Stand der Finanzen berichtete. Das alljährliche Verfahren bezüglich der Rechnungsprüfung und Entlastung wurde auch diesmal unverändert beibehalten. Herr Prof. Dr. Herrig aus Berlin machte alsdann Mittheilungen über die daselbst zu begründende Akademie für moderne Philologie und überreichte das Programm nebst dem Verzeichniss der im Winter 1872-73 zu haltenden Vorlesungen. Als Ort der nächsten Jahresversammlung wurde auf Antrag des Vorstandes Weimar erwählt und endlich der siebente Band des Jahrbuchs unter die anwesenden Mitglieder vertheilt.

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