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Deffentlichen vertraut war. So famen auch durch diese Gerämse die Kinder mit den Nachbarn in Verbindung, und mich gewannen1 drei gegenüber wohnende Brüder von Ochsenstein, hinterlassene Söhne des verstorbenen Schultheißen2, gar lieb und beschäftigten und neckten sich mit mir auf mancherlei Weise.

Meines Vaters Mutter, bei der wir eigentlich im Hause wohnten3, lebte in einem großen Zimmer hinten hinaus*, unmittelbar an der Hausflur, und wir pflegten unsere Spiele bis an ihren Seffel, ja, wenn sie krank war, bis an ihr Bett hin3 auszudehnen. Ich erinnere mich ihrer gleichsam® als eines Geistes, als einer schönen, hagern, immer weiß und reinlich gekleideten Frau. Sanft, freundlich, wohlwollend ist sie mir im Gedächtniß geblieben.

Wir hatten die Straße, in welcher unser Haus lag, den Hirschgraben nennen hören; da wir aber weder Graben noch Hirsche sahen, so wollten wir diesen Ausbruck erklärt wissen. Man erzählte sodann, unser Haus stehe auf einem Raum, der sonst außerhalb der Stadt gelegen, und da, wo jezt die Straße sich befinde, sei ehemals ein Graben gewesen, in welchem eine Anzahl Hirsche unterhalten worden". Man habe diese Thiere hier bewahrt" und genährt, weil nach einem alten Herkommen der Senat alle Jahre einen Hirsch öffentlich verspeiset 13, den man denn1 für einen solchen Festtag hier im Graben immer zur Hand gehabt, wenn auch auswärts Fürsten und Ritter der Stadt ihre Jagdbefugniß verkümmerten" und störten, oder wohl gar1 Feinde die Stadt eingeschlossen oder belagert hielten. Dies gefiel uns sehr, und wir wünschten, eine solche zahme Wildbahn wäre auch noch bei20 unsern Zeiten zu sehen gewesen.

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Im zweiten Stock befand sich ein Zimmer, welches man

das Gartenzimmer nannte, weil man sich daselbst durch wenige Gewächse vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu ersehen gesucht hatte. Dort war, wie ich heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt'. Ueber Gärten hinaus, über Stadtmauern und Wälle sah man in eine schöne fruchtbare Ebene; es ist die, welche sich nach Höchst hinzieht. Dort lernte ich Sommerszeit2 gewöhnlich meine Lectionen, wartete die Gewitter ab3 und fonnte mich an der untergehenden Sonne, gegen welche die Fenster gerade gerichtet waren, nicht satt genug sehen*. Da ich aber zu gleicher Zeit die Nachbarn in ihren Gärten wandeln und ihre Blumen besorgen, die Kinder spielen, die Gesellschaften sich ergehen' sah, die Kegelkugeln rollen und die Segel fallen hörte, so erregte dies frühzeitig in mir ein Gefühl der Einsamkeit und einer daraus entspringenden Sehnsucht, das, dem von der Natur in mich gelegten Ernsten und Ahnungsvollen entsprechend, seinen Einfluß gar bald und in der Folge noch deutlicher zeigte.

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Innerhalb des Hauses zog meinen Blick am Meisten eine Reihe römischer Prospecte auf sich, mit welchen der Vater" einen Vorsaal ausgeschmückt hatte, gestochen von einigen geschickten Vorgängern1 des Piranesi1, die sich auf Architektur und Perspective wohl verstanden und deren Nadel1 sehr deutlich und schäzbar ist. Hier sah ich täglich die Piazza del Popolo", das Coliseo18, den Petersplay, die Peterskirche1o von außen und innen, die Engelsburg 20 und so manches Andere. Diese Gestalten drückten sich tief bei mir ein, und der sonst sehr lakonische Vater hatte wohl manchmal die Gefälligkeit", eine Beschreibung des Gegenstandes vernehmen zu lassen. Seine Vorliebe für die italienische Sprache und für Alles, was sich auf jenes Land bezieht, war sehr ausge

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sprochen. Eine kleine Marmors und Naturaliensammlung, die er von dorther mitgebracht, zeigte er uns auch manchmal vor, und einen großen Theil seiner Zeit verwendete er auf seine italienisch verfaßte Reisebeschreibung, deren Abschrift und Redaction er eigenhändig, heftweise, langsam und genau ausfertigte. Ein alter heiterer italienischer Sprachmeister, Giovinazzi genannt, war ihm daran* behilflich. Auch sang der Alte nicht übel, und meine Mutter mußte sich bequemen ®, ihn und sich selbst mit dem Klaviere täglich zu accompagniren'; da ich denn das Solitario bosco ombroso bald kennen lernte und auswendig wußte, ehe ich es verstand.

Mein Vater war überhaupt lehrhafter Natur, und bei seiner Entfernung von Geschäften1 wollte er gern dasjenige, was er wußte und vermochte", auf Andere übertragen. So hatte er meine Mutter in den ersten Jahren ihrer Verheirathung zum fleißigen Schreiben angehalten, wie zum Klavierspielen und Singen; wobei sie sich genöthigt sah, auch in der italienischen Sprache einige Kenntniß und nothdürftige " Fertigkeit zu erwerben.

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Gewöhnlich hielten wir uns in allen unsern Freistunden' zur Großmutter, in deren geräumigem Wohnzimmer wit hinlänglich Play zu unsern Spielen fanden. Sie wußte uns mit allerlei Kleinigkeiten zu beschäftigen und mit allerlei guten Bissen zu erquicken. An einem Weihnachtsabende jedoch segte sie allen ihren Wohlthaten die Krone auf 15, indem sie uns ein Puppenspiel vorstellen ließ und so in dem alten Hause eine neue Welt erschuf. Dieses unerwartete Schauspiel zog die jungen Gemüther mit Gewalt an sich; besonders auf den Knaben machte es einen sehr starken Eindruck, der in eine große, langdauernde Wirkung nachklang”.

Die kleine Bühne mit ihrem stummen Personal1, die man

uns anfangs nur vorgezeigt hatte, nachher aber zu eigner Uebung und dramatischer Belebung' übergab, mußte uns Kindern um so viel werther sein, als es das lehte Vermächt niß unserer guten Großmutter war3, die bald darauf durch zunehmende Krankheit unsern Augen erst entzogen und dann für immer durch den Tod entrissen wurde. Ihr Abscheiden* war für die Familie von desto größerer Bedeutung, als es eine völlige Veränderung in dem Zustande derselben nach sich zog.

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So lange die Großmutter lebte, hatte mein Vater sich gehütet, nur das Mindeste im Hause zu verändern oder zu erneuern; aber man wußte wohl, daß er sich zu einem Hauptbau vorbereitete, der nunmehr auch sogleich vorgenommen wurde. In Frankfurt, wie in mehrern alten Städten, hatte man bei Aufführung hölzerner Gebäude, um Plaz zu gewinnen, sich erlaubt, nicht allein mit dem ersten, sondern auch mit den folgenden Stöcken" überzubauen"; wodurch denn13 freilich besonders1⁄4 enge Straßen etwas Düsteres und Aengstliches bekamen. Endlich gieng ein Geseß durch 16, daß, wer ein neues Haus von Grund auf" baue, nur mit dem ersten Stock über das Fundament herausrücken dürfe, die übrigen aber senkrecht aufführen müsse18. Mein Vater, um den vorspringenden Raum im zweiten Stock auch nicht aufzugeben, wenig bekümmert1 um äußeres architektonisches Ansehen und nur um innere gute und bequeme Einrichtung besorgt, bediente sich, wie schon mehrere vor ihm gethan, der Ausflucht, die oberen Theile des Hauses zu unterstüßen2 und von unten herauf einen nach dem andern wegzunehmen und das Neue gleichsam einzuschalten, so daß, wenn zuleßt gewissermaßen nichts von dem Alten übrig blieb, der ganz neue Bau noch immer für eine Reparatur gelten konnte. Da nun also das Einreißen und Aufrichten allmählich

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geschah, so hatte mein Vater sich vorgenommen, nicht aus dem Hause zu weichen, um desto besser die Aufsicht zu führen. und die Anleitung geben zu können: denn aufs Technische1 des Baues verstand er sich ganz gut; dabei wollte er aber auch seine Familie nicht von sich lassen. Diese neue Epoche war den Kindern sehr überraschend und sonderbar. Die Zimmer, in denen man sie oft enge genug gehalten und mit wenig erfreulichem2 Lernen und Arbeiten geängstigt, die Gänge, auf denen sie gespielt, die Wände, für deren Neinlichkeit und Erhaltung man sonst so sehr gesorgt, Alles das vor der Hacke des Maurers, vor dem Beile des Zimmermanns fallen zu sehen, und zwar von unten herauf, und indessen oben auf unterstüßten Balken, gleichsam in der Luft zu schweben und dabei immer noch zu einer gewissen Lection, zu einer bestimmten Arbeit angehalten zu werden – dieses Alles brachte eine Verwirrung in den jungen Köpfen hervor, die sich so leicht nicht wieder ins Gleiche seßen ließ. Doch wurde die Unbequemlichkeit von der Jugends weniger empfunden, weil ihr etwas mehr Spielraum als bisher und manche Gelegenheit, sich auf Balken zu schaukeln und auf Brettern zu schwingeno, gelassen ward.

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Hartnäckig seßte der Vater die erste Zeit seinen Plan durch; doch als zulezt auch das Dach theilweise abgetragen 10 wurde und ohngeachtet" alles übergespannten" Wachstuches von abgenommenen Tapeten der Regen bis zu unsern Betten gelangte, so entschloß er sich, obgleich ungern, die Kinder wohlwollenden Freunden, welche sich schon früher dazu erboten hatten, auf eine Zeit lang zu überlassen und sie in eine öffentliche Schule zu schicken.

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Um diese Zeit war es eigentlich, daß ich meine Vaterstadt zuerst gewahr 16 wurde: wie ich denn nach und nach immer

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