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Ruh' sei mit ihrer Asche!
Es wird sie, traun, der Feigheit
Kein Lebender je zeihen.
Es erntet Ruhm der eine,
Daß er ein Werk begonnen;
Es erntet Ruhm ein zweiter,
Daß er das Werk vollendet,

Ihr Loos soll mich nicht schrecken . . .
Wär' ich, schon nah am Ziele,
Selbst in Gefahr zu gleiten,
Es reichte aus den Wolken
Ein Engel mir die Hände,
Und führte oder trüge
Das hochgesinnte Mädchen
Mitleidig auf den Gipfel.

Fühlt man nicht bei jeder Zeile, daß Elisabeth_selber Marie von Chamouny ist, die den Montblanc des Dichterruhms ersteigt? Athmet dies Gedicht nicht die gleiche Tapferkeit, die Elisabeths Väter und Brüder auf dem Schlachtfelde bewiesen?

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Großheinrich hatte mehrere Poesien der Kulmann in verschiedenen Sprachen dem Dichterfürsten in Weimar mittheilen lassen, und dieser hatte sich beifällig geäußert. Bei näherer Kunde über ihre Lebensverhältnisse hatte er bemerkt: „Schade, daß fie armist! Und doch ist vielleicht auch dies nicht obne Nußen.“ Sagen Sie der Dichterin," hatte er schließlich der Ueberbringerin zugerufen, „daß ich ihr für die Zukunft einen ehrenvollen Rang in der Literatur prophezeihe, sie mag von den ihr bekannten Sprachen schreiben in welcher sie wolle.“ Ein solches Zeugniß, aus solchem Munde war ein mächtiger Stachel für Elisabeth, und wirkte auch auf die ängstliche Mutter. Es ward beschlossen, daß unsere Dichterin, um ihre Zukunft ficher zu stellen, zur Erzieherin sich vorbereiten, die Mußestunden aber auch ferner der Poesie widmen solle.

Der Trieb Sprachen zu lernen war bei Elisabeth keineswegs gestillt; mit Be gierde ergriff sie daher das Anerbieten eines wackern Priesters, ihr das Slawonische, die russische Kirchensprache, zu lehren, und gewann so die achte Sprache.

Mit dem Schlusse des dreizehnten Jahrs begann ihre Blüthezeit in der Poesie. Das künstlerische Gefallen, das sie an Anakreon fand eine Seelenverwandtschaft hatte sonst zwischen ihr und dem Sänger von Teos nicht Statt bewog fie, eine Prosaübersehung der schönsten Lieder desselben in fünf Sprachen, eine metrische in ihren drei Lieblingssprachen, auszuarbeiten. Dies Werk wurde der Kaiserin Elisabeth, Gemahlin Alexanders, überreicht. Daß unsere Dichterin eigene Poesien, das Beste, was sie zu bieten hatte, nicht hinzufügte, ist zu beklagen. Welcher Maler, der Eigenes schaffen kann, wird Kopieen ausstellen? Die Czarin empfing die Gabe mit Huld, und erwiederte fie mit einem Diamantschlößchen. Hätte sie doch den Steinen Brot zugelegt und Elisabeth einen kleinen Jahrgehalt ausgeseßt, der mit den wachsenden Leistungen der Dichterin gestiegen wäre!

Elisabeth hörte von dem Kardinal Mezzofauti, der, bei sonst mittelmäßiger Begabung, sich mit den Fremden Roms in 38 Sprachen geläufig unterhielt. Dies spornte fie, ihren acht Sprachen noch drei zuzulegen: das Spanische, Portugiesische und Neugriechische. Sie hatte von Korinna gelesen, die, der Sage nach, den Sieg über den Dichterfürsten Pindar davongetragen. Von dem Gedanken erfüllt, eine moderne Korinna zu werden, schuf sie nun einen Cyklus von Liedern, die sie Korinnens Gedichte nannte. Sie machen einen Theil der obengenannten „poeti schen Versuche“ aus und waren mit dem Ende des sechzehnten Jahres vollendet. Wie genial sie bei diesen trefflichen Produktionen verfuhr, mag ein Beispiel zeigen. In einem der Korinnen - Gedichte, das Nachen-Eiland, verpflanzt sie ein aus Schiffstrümmern im Nil entstandenes Giland, von dem sie in Belzoni gelesen, nach Bootien in den See Kopaïs, dem diese Entstehung angedichtet werden soll. Gine in Dinte getauchte Feder, von zwei Fingern der suchenden Hand gehalten, schwebt dabei über der Karte. Plößlich fällt ein Tropfen nieder dicht an der Stelle, wo

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der Cephissus in den See mündet. „Da ist ja eine Insel!“ ruft sie aus. „Was ist da zu bedenken? Lassen wir die unsrige bier entstehn."

Um mehr Popularität zu gewinnen, beschloß Glisabeth jezt, ausländische und russische Mäbrchen in kleinen Epochen auszuführen. Sie trug sich daneben mit fühneren Gutwürfen, nämlich mit dem Plane zu drei Heldengedichten, welche Kiew's Herrscher Bladimir, der das Christenthum in Rußland einführte, Iwan, den Grz oberer Kasan's, und Peter den Großen feiern sollten. Von diesen Heldengedichten war ihr keins mehr zu schreiben vergöunt.

Sie hatte das russische Mährchen Dobruna Nikitsch seit wenigen Tagen vollendet, als am 7. November 1824 die schreckliche Ueberschwemmung Petersburgs eintrat. Von den noch lebenden Brüdern Glisabeths hatte sich der älteste acht Tage zuvor verheirathet. Elisabeth hatte nach vollzogener Trauung bei stürmischem Wetter auf der Kirchentreppe, vielleicht ohne Mantel, auf den Wagen warten müssen. Sie hatte dann einige Tage bei den Neuvermählten zugebracht, und als nun die Ueberschwemmung eintrat, konnte sie nicht nach Waffili-Ostrow zu ihrer Mutter zurück, über deren Schicksal sie in größter Angst schwebte. In dem Erdgeschosse des Hauses, das der Bruder bewohnte, stand das Wasser. Elisabeth war mit einer Menge hierhergeflüchteter Kinder beschäftigt; dazwischen ráng sie die Hände und flehte zu Gott für die gefährdete Mutter. Solchen Erschütterungen war der angegriffene Körper des zarten Märchens, das bereits mehrere Krankheiten schwer überstanden hatte, nicht mehr gewachsen. Als sie der Lehrer aufsuchte, sobald das Fallen des Wassers die Kanalbrücke zu überschreiten gestattete, fand er sie ganz heifer, und beim Abschied sagte sie unter Thränen lächelnd: „Der Ausspruch der Hebamme wird sich am Ende doch erfüllen.“

In der That bildete sich die Schwindsucht aus. Man verbarg den Zustand der Kranken sorgfältig vor ihr selbst und vor der Mutter; aber Elisabeth hatte ihn bereits errathen und war fortan nur darauf bedacht, ihn der geliebten Mutter zu verheimlichen. Mit Fassung, ja mit Tapferkeit ihr Schicksal erwartend, erfüllte sie nunmehr der eine Gedanke, neue Werke zu schaffen, die ihren Namen der Nachwelt überliefern könnten. Es war dies keine eitle Ruhmbegier: sie fühlte sich bes rufen, der Welt Gtwas zu sein; eine reine Priesterin der Vesta wollte sie im Tempel stehn, so lang sie die Füße zu tragen vermöchten.

Jcht langte auch ein verspätetes Urtheil Jean Paul's über ihre poetischen Leistungen an. „Mir abnet,“ hatte der Dichtergreis gesagt, „daß dieser kleine, so hellstrahlende Nordstern uns früher oder später zwingen wird, unsere Blicke nach ihm zu wenden.“Glisabeth_brach in Thränen aus, sagte aber_bald_gefaßt: „Vater Homer, das ist nun einmal das Schicksal Deiner Kinder: Dein Sohn Achill, obz wohl von der Mutter her mit den Göttern verwandt, muß seinen, nun schon bald dreitausendjährigen Ruhm durch frühen Tod erkaufen, und Deiner Tochter, der nordischen Korinna, steht nun ein gleiches Schicksal bevor.“

So sehen wir das hervische Märchen, troß Armuth und Krankheit, wahrscheinlich auch ohne hinreichende ärztliche Pflege, ungebrochen. Entrüstet wies sie den Vorschlag eines Bekannten, einem petersburger Millionär mit einem Gedichte zu huldigen, zurück. „Selbst der Hunger," äußerte sie, „soll mich nicht zwingen, meiner Poesie den Bettelsack überzuwerfen."

Troß ihres sinkenden Gesundheitszustandes wünschte Elisabeth, da ihr die drei zulcht erlernten Sprachen keine Schwierigkeit mehr boten, auch das Arabische und Persische sich anzueignen. Der Lehrer, mit diesen Sprachen unbekannt, hatte sich erboten, bei einem Orientalisten Vorlesungen zu hören und dann die gewonnenen Kenntnisse auf sie überzutragen; allein die zunehmende Schwäche der Kranken verhinderte es.

Folgendes ist nun nach Großheinrich das Verzeichniß der Leistungen Elisa

beth's:

I. Die Gemäldesammlung. Unsere Dichterin verglich diese kleinen lyris schen Produktionen_mit „Bilderchen,“ deren Teniers, so lang er arm war, oft mehrere an einem Tage malte. Sie theilte sie in „Sale" (die Orientalen in Divans) ein. Die uns vorliegende Sammlung gibt 72 solcher Sale, 24 von S.

7-123, 20 von S. 275-350 und die 28 leßten von S. 473-595, in wunderlicher Zerstückelung. Diese Gedichte sind nur in deutscher Sprache vorhanden.

II. Ihre Ueberseßung Anakreon's, für welche Arbeit sie eine besondere Vorliebe hegte, erst in fünf und später in acht Sprachen. Unsere Sammlung bringt die metrische Ueberseßung in's Deutsche S. 128–133.

III. Ihre Uebersehung von Oferow's Trauerspielen in's Deutsche. Kenner rühmen ihre außerordentliche Treue.

IV. Ihre Ueberseßung zweier Trauerspiele Alfieri's in's Deutsche und seines Saul in's Russische.

V. Ihre poetischen Versuche, in russischer, deutscher und italienischer Sprache, die deutschen in der Sammlung S. 128 254.

VI. Ihre Uebersehung von Iriartes Fabeln aus dem Spanischen, mehrere Bruchstücke aus Camoens' Lusiade und 30 Oden von Manoël aus dem Portugiesischen; Bruchstücke aus Milton's verlorenem Paradiese; mehrere Gedichte Metastasio's — alles in deutscher Sprache.

VII. Ihre ausländischen, russischen und orientalischen Mährchen, alle in russischer Sprache; nur Dobrúna Nikitsch und die Wunderlampe (S. 353-472) auch deutsch.

VIII. Ihre neugriechischen Volkslieder (S. 259–262), die sie, wenige Tage vor ihrem Tode, in schlaflosen Nächten überseßte.

Vorliegende Sammlung enthält, wie schon erwähnt, an 100,000 Verse; hätte Großbeinrich die Uebersetzungen mitgegeben, so würde ihr Umfang mehr als verdoppelt sein. Bedenkt man, daß die Dichterin im siebzehnten Jahre starb, daß ihre Thätigkeit noch weit andere Dinge umfaßte und daß ihre Kraft im legten Jahre gebrochen war: so muß die Masse dieser poetischen Leistungen in Erstaunen seßen. Welche Produktionskraft in so schwachem Körper! Großheinrich macht uns die Sache erklärlicher, indem er uns ihre Lebensweise mittheilt. Von ihrem elften Jahre an schlief Elisabeth nie länger als sechs Stunden. Die einfache Morgentoilette und das Frühstück kosteten ihr kaum eine halbe Stunde. War kein Thee im Hause, so setzte sie sich gleich, ein Stück Brot in der Hand, an die Arbeit. Bon halb Sieben an waren nun sechs bis siebtehalb Stunden der Poesie gewidmet; nichts, was um sie vorging, konnte sie abziehen; fie producirte oft 500 bis 600 Verse. Es war, sagt Großheinrich, als ob sie einer geheimen Stimme nachschriebe, so schnell gestalteten sich die Gedanken. Dabei wurden ihre Hände eiskalt, so daß sie nur durch langes Reiben wieder erwärmt werden konnten. Um Drei, nach der färglichen, nur aus zwei Schüsseln bestehenden Mahlzeit, war Elisabeth wieder bei der Arbeit, aber nun hatte sie es mit Büchern zu thun. Stehend, oder auf und niedergehend las sie; aus den Notizen, die sie dabei machte, sprang leicht an einem folgenden Morgen ein Gedicht hervor. Bis Abends Sieben trug so die emsige Biene Honig zusammen. Nach dem Thee nahm sie Zeichnungen oder Handarbeiten vor, indeß die Mutter, die während des Tags den Haushalt ohne Magd besorgte, vorlas. War die Nachmittagslektüre mehr wissenschaftlicher Art gewesen, so galt es jezt der schönen Literatur, und oft knüpften sich bedeutende Gespräche an. Doch ging Elisabeth, wenn es Noth that, der Mutter auch in häuslichen Geschäften zur Hand. Dreimal in der Woche begaben sich beide Abends um Neun zu Herrn Meder, der sich dann mit Elisabeth und seinen Töchtern in naturwissenschaftlichen Gesprächen erging. Auch übte sich Elisabeth, die kein eigenes Instrument besaß, hier auf dem Piano. Ein leichtes Abendessen schloß den Tag.

Wenn auch ein tiefer Grnst die Grundstimmung Elisabeths war, so konnte sie doch auch mit der ganzen Unschuld und Harmlosigkeit ihres Alters den Freuden der Geselligkeit sich hingeben; besonders machte es ihr Vergnügen, Mährchen, die sie jedesmal neu gestaltete, in einem Kinderkreise zu erzählen. Schüchtern und zurückhaltend in der Gesellschaft, trat sie nur aufgefordert hervor; aber dann staunte man auch über die Gewandtheit und Tiefe dieses vielseitig gebildeten Geistes. Der Rede vollkommen Meister, wußte sie seichte oder boshafte Schwäßer mit raschem Worte sicher zu treffen. Ihre Wohlthätigkeit war, troß aller Ärmuth, grenzenlos.

Wie schwer es ihr auch ward, von Mutter und Lehrer, „den Genien auf ihrem Lebenswege,“ zu scheiden, so fand sie doch Troft in der Religion. In eineni der lezten Gedichte sagte fie:

Könnten wir des Lebens Grenze

Hand in Hand zu gleicher Zeit
Alle drei doch überschreiten!
Denn mir fehlen werdet ihr
Selbst im Hochgenuß des Himmels.
Schreiten also muß allein

Durch das Thal, das furchtbar düstre,
Ich, o Lod? Verzage nicht,
Bebend Herz! Bis an des Thales
Eingang folgen sie mir nach,
Und, dieweil ich es durchwalle,
Hör' ich ihres Weinens Laut.
Und am andern Thalesende
Stehet Gott und spricht zu mir:
„Sieh, Dich rettete Dein Glaube,
ind hier ist kein Scheiden mehr."

In solcher Stimmung starb Elisabeth den 19. November 1825, 17 Jahre 4 Monate alt. Mehrere Personen waren Nachmittags zum Besuche gekommen; fie hatte, wenn auch mit matter Stimme, an der Unterhaltung Theil genommen, als fie um Fünf sich plöglich so schwach fühlte, daß sie nach dem Priester zu schicken bat. Sie sprach dessen Gebete, so lang sie es vermochte, nach, und verschied dann, das Haupt in die Hand legend, sanft, unter dem Geläute der Abendglocken.

Ein Denkmal aus carrarischem Marmor, von der Hand des Italieners Triscorni, ziert ihr Grab auf dem Smolenskischen Kirchhofe. Nach dem Vorberichte der ersten Ausgabe wurden die Kosten aus dem Erlös des obenerwähnten Brillantschlosses und eines Brillantringes bestritten, welchen Großheinrich später von der Großfürstin Helena erhielt, nachdem er ihr Elisabeth's Ueberseßung Anakreon's in acht Sprachen hatte überreichen lassen. Das Grabmal_stellt die Dichterin im offnen, mit Akanthusblättern umrankten Sarge dar, das Haupt in der linken Hand ruhend, wie sie gestorben war. Das Piedestal trägt Inschriften in den elf Sprachen, die sie kannte; die neugriechische lautet: Sië ist nicht tødt, sie schlummert nur.

Elisabeth, so heißt es ungefähr in einer ihrer Biographien, war von seltener Schönheit; doch waren ihr schlanker, hoher Wuchs, ihre erhabene Stirn, ihr langes Fastanienbraunes Haar, ihre alabasterweiße, durch sanfte Röthe gehobene Gesichtsfarbe, ihr völlig griechisches Profil und ihre großen, glänzend hellbraunen Augen, dies alles war unbedeutend im Vergleich mit dem unbeschreiblichen Ausdruck ihrer Physiognomic. Es lag darin etwas Außerordentliches, Hohes, Jeden sogleich Grgreifendes. Ihre Stimme, biegsam und klar, nahm die Töne des zartesten Gefühls an und drang, wie Musik, zu Herzen, besonders wenn sie aus voller Seele sprach. Sie sang, deklamirte, und improvifirte vortrefflich. Der Geist Griechenlands, der sie beseelte, goß über ihr ganzes Wesen einen Zauber plastischer Schönheit.

Wir gehen jetzt zu dem Inhalte und der Kritik der in vorliegender Sammlung mitgetheilten Poesien Elisabeth's über, indem wir zuerst die im Buche zerstreuten 72 Säle der Gemäldesammlung in's Auge fassen. Die Dichterin bedient sich bei diesen meist kleinen lyrischen Produktionen jener kurzen, in der Regel jambischen Versmaße, die, ohne Reim kaum Eindruck von Versen machen, mit Reim noch weniger befriedigen, weil Elisabeth den Reim nicht zu handhaben versteht, und der Reimzwang ihrer Originalität Eintrag thut. Deshalb sind auch ihre besten Sachen ohne Reime geschrieben, und in der That vergißt man bei ihnen diesen Mangel, weil ihn großartige Schönheiten verhüllen.

Die ersten 24 Säle, eröffnet durch eine ergreifende, schon im Vorgefühl des Todes gedichtete Widmung an die deutschen Frauen, bringen uns das Eckchen Welt, das Elisabeths Kinderschritten erreichbar war. Ihre Hütte im Abendgold, das Käßchen auf der Thürschwelle, das Hühnervolk im Hofe, Herr Spaß auf dem Dach, ferner Blumen, Gräfer, Bäume, die wilden Beeren und Quellen in Garten, Feld und Wald, die Sonne, deren Licht ihr so süß ist wie der Mutterkuß; der Mond, zu dem Erd' und Meer verklärt emporschauen, kurz, hundert artige Dinge spiegeln fich klar und lieblich in dem weichen Dichtergemüthe ab. In dem Morgengebete ruft sie die Vögel und Schmetterlinge zusammen, um gemeinschaftliche Andacht im Garten mit ihnen zu halten; ein Zeisig wird zum Wettgesang herausgefordert; ein Bienchen hält sie für eine Blume und sticht sie, da sie nicht still halten will. Birklich großartig ist der Strom (S. 27). Auch die Wolken (S. 29), die Tags- und Jahrszeiten (S. 30-33), der Blitz (S. 36), der Wind (S. 39), die beiden Sonnenaufgänge (S. 40), die Sonne, „der Schatz teurig Gottes" (S. 42), find alles Perlen, auf die ich nicht umhinkann, den Leser aufmerksam zu machen, der sich vielleicht vor dem dicken Buche scheut. Wie abgefungen und völlig ausgesogen sind nicht diese Stoffe! Unter Elisabeth's, des dreizehnjährigen Mädchens Hand, gestalten sie sich neu; ein ursprünglicher Geist strömt hier seine Fülle aus.

Natürlich findet sich auch vieles Schwache und Unfertige, das keine Aufnahme verdient. So ist die Darstellung im 12. Saale, welcher Helden der alten und neuen Geschichte aufführt, mitunter eine völlig prosaische. Man sehe nur Diokles (S. 57). Der 13. und 14. Saal nehmen ihren Stoff aus dem alten und neuen Testamente. Elisabeth_beabsichtigte, die ganze Geschichte Jesu auf diese Weise für Kinder zu bearbeiten; indeß wird die Bibel jedem Alter mehr gewähren, als diese gereimten Periphrasen.

Es folgen nun Reisebilder, Scenen genannt, vom 15.-18. Saale. Wir wandern durch Sibirien, die Mantschurei, Tibet und China, durch Indien, die Malediven, Zeylon, Syrien und Palästina, Afrika und Amerika. Man fühlt, daß der Dichterin, die natürlich ihren Stoff nur aus Reisewerken gezogen hat, die Anschauung fehlt. Zu den gelungensten Gedichten gehört das auf den Himalaya (S. 76). Vom Ganges heißt es, daß er mit einem Gefolge von sechzig Strömen vor dem Meer erscheine und sich ein Meer schaffen würde, wenn er keins vorfände. Der Fall des Bogotastroms (in Columbia) heißt prächtig „ein vom Himmel hangendes Meer." Neben solchen Stellen stößt man auf Verse wie:

Dem ungeachtet wollen

Wir nicht voreilig sein (S. 80),

die wirklich zum Davonlaufen find.

Der 19.-23. Saal ist gemischten Inhalts. Wir theilen das treffliche Gedicht, die Fregatte, mit, das auch von Seiten des Reims wenig Anstoß gibt:

Des Meeres holde Tochter
Mit langem schwarzen Haar
Und deinen sieben Schleiern,
Wie schön stellst du dich dar!

Wer sicht, theilst du die Wellen,
Unsäglich schöner Schwan,
Gefolgt von deinen Jungen,
Bewundrungslos dich an?

Deckt aber Ungewitter
Den Himmel rings umher,
Verschwört, dich zu vernichten,
Die Luft sich und das Meer;

Mit steigender Verachtung
Trittst du, die Königin,

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