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Recht und Sitte

auf den verschiedenen

wirtschaftlichen Kulturstufen.

Von

Dr. Richard Hildebrand,

o. Professor der Politischen Oekonomie an der Universität Graz.

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SPRECKELS

Den nachfolgenden Untersuchungen liegt das Problem einer allgemeinen Entwickelungsgeschichte des Rechts und der Sitte zu Grunde. Wie ich schon an einem anderen Orte*) darzuthun versucht habe, ist dieses Problem nur zu lösen, wenn man sich nicht darauf beschränkt, die einzelnen Erscheinungen auf dem Gebiete des Rechts und der Sitte, welchen man bei den verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten begegnet, einfach mit einander zu vergleichen, sondern das so gewonnene Material auch zugleich nach wirtschaftlichen Kulturstufen ordnet oder gruppirt. Denn um die entwickelungsgeschichtliche oder genetische Aufeinanderfolge oder Zusammengehörigkeit der einzelnen bei den verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten auftretenden Rechtsverhältnisse und Sitten zu bestimmen oder schlechtweg sagen zu können, dieses Recht oder diese Sitte ist älteren oder primitiveren Ursprungs als jenes Recht oder jene Sitte, dazu braucht man offenbar ein über die Chronologie hinausragendes oder von derselben ganz unabhängiges Kriterium. Als ein solches bietet sich aber nur die wirtschaftliche Kultur dar, da nur diese einen ganz bestimmten, im Grossen und Ganzen immer und überall gleichen oder sich stets in einer und derselben Richtung fortbewegenden Entwickelungsgang aufweist, der sich daraus erklärt, dass die Bevölkerung oder Zahl der Menschen immer

*),,Ueber das Problem einer allgemeinen Entwickelungsgeschichte des Rechts und der Sitte", Inaugurationsrede. Graz (Leuschner und Lubensky) 1894.

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und überall mehr oder weniger wächst und von allen Interessen, welche das handelnde Leben beherrschen, der Natur der Sache nach die wirtschaftlichen stets die allermächtigsten sind.

Ich habe nun den Gedanken, den Ursprung oder die entwickelungsgeschichtliche Aufeinanderfolge und Zusammengehörigkeit der einzelnen Rechtsverhältnisse und Sitten, auf welche man bei den verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten stösst, an der Hand des ökonomischen Kulturfortschritts nachzuweisen, im Folgenden thatsächlich ausgeführt.

Eine Arbeit, die im Wesentlichen neue Bahnen einschlägt, sich auf dem Boden zweier verschiedener Disziplinen bewegt und sich ihr Material aus allen möglichen Quellen zusammentragen muss, kann jedoch ihr Thema nicht auch gleich erschöpfen wollen, und so habe ich mich hier auch nur auf die wichtigsten oder fundamentalsten Fragen beschränkt.

Dabei bin ich indess bestrebt gewesen, immer so viel als möglich die Thatsachen sprechen zu lassen, und habe daher auch alle Belegstellen wörtlich und, so weit es mir möglich war, in der Originalsprache citirt, so dass der Leser meine Ausführungen auf Schritt und Tritt zu kontrolliren in der Lage ist.

Sehr reiche Ausbeute an wertvollem Material bot mir, für das dritte Kapitel, insbesondere das grosse, dreibändige Werk von Baden-Powell (,,one of the Judges of the Chief Court of the Panjáb"): „The land-systems of British India" (Oxford 1892).

Eine besonders eingehende Untersuchung, bei welcher ich mich auch auf das philologische Gebiet zu begeben genötigt war, habe ich, in demselben Kapitel, den Germanen des Caesar und Tacitus gewidmet.

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I. Jäger und Fischer.

Zuerst fristet der Mensch sein Dasein noch ausschliesslich von den freiwilligen Gaben der Natur oder von der Beute und vom Funde, also: Jagd, Fischfang und Pflanzenlese. Wie Tacitus (Germ. 46) von den Fennen sagt: „,victui herba, vestitui pelles, cubile humus, solae in sagittis opes."

Es ist dies ein Leben noch ganz von der Hand in den Mund und von einem Tage auf den anderen.

Und daher auch noch vollkommen unstät: die Menschen sind dabei fast beständig auf der Suche oder im Herumstreifen begriffen.

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Und da die Natur von freien Stücken nur selten so viel Nahrungsmittel auf einem Flecke zusammenhäuft, dass eine grössere Anzahl von Individuen davon existiren kann, so leben die Menschen auf dieser untersten Stufe auch meist noch ganz zerstreut und vereinzelt, d. h. nur in Familien, nicht in Horden beisammen.

Vrgl. Westermark, „The history of human marriage" (London 1891) p. 538. „All the evidence we possess tends to show that among our earliest human ancestors the family, not the tribe, formed the nucleus of every social group, and, in many cases, was itself perhaps the only social group. The manlike apes are not gregarious, and the solitary life they generally lead, is almost certainly due chiefly to the difficulty they experience in getting sufficient quantities of food. Even now there are savage peoples of the lowest type, who live rather in separate families than in tribes, and facts indicate

Hildebrand, Recht uud Sitte.

I

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